Ein Blick auf das Leben von Geflüchteten ohne Dinge

Was nützt es Ethnolog*innen, den Besitz von Menschen zu untersuchen, wenn es in dem Feld, in dem sie zu forschen versuchen, keine bedeutungsschweren Dinge gibt? Während meiner ethnographischen Forschung zu Migration und „Kulturen des Zuhauses“, auch im Rahmen des Forschungsprojekts Mobile Worlds, in dem ich zuvor tätig war, musste ich Antworten auf solche Fragen geben.

Halsketten oder zerbrochene Handys können wertvolle Dinge sein, an denen man sich festhält; man hat sie zufällig oder auch aufgrund praktischer Eigenschaften wie Größe oder Gewicht mitgenommen. Die weggenommenen oder verlorenen Habseligkeiten überwiegen jedoch bei weitem die wenigen mitgebrachten Gegenstände, welche meist den Attraktionsmittelpunkt unter Migrationsforscher*innen darstellen. Die einzigartigen Objekte, die mitgenommen werden, sind mit Emotionen beladen und haben ihren Platz im Leben und in der Biografie der Menschen; allerdings sollte man vermeiden, die Rolle der Erinnerungsstücke unverhältnismäßig hoch anzusehen (oder gar vorauszusetzen).

Der Blick auf die Immaterialität kann den Rahmen der materiellen Kulturforschung, die beispielsweise zu Menschen durchgeführt wird, die illegal nach Europa gekommen sind, methodisch erweitern. Allein aus dem Grund, dass solche Grenzübertritte Agilität und Schnelligkeit erfordern, haben diese Migrant*innen kaum etwas bei sich. Daher ist die Abwesenheit von Dingen ein hochrelevantes Thema im Bereich der Erforschung erzwungener und illegalisierter Migration.

Beeinflusst von einer ganzen Reihe von Literatur, die die Relevanz von Objekten im Leben von Menschen betont, war ich oft verblüfft von der Tatsache, dass viele Menschen, aus ganz unterschiedlichen Hintergründen (und daher aus ganz unterschiedlichen Gründen), kaum bedeutsame Beziehungen zu Besitztümern oder Dingen hatten. Aber wie sieht es aus, wenn eine Person keine Besitztümer vermisst, wenn sinnvolle Erinnerungsstücke unerreichbar sind oder nie Teil einer Lebensweise waren? [1] Wie können sich Forschende mit der 'materiellen Dimension' menschlichen Lebens unter solchen Bedingungen fruchtbar befassen?

Victor Buchli stellte fest, dass 'Immaterialität', von ihm verstanden als Ablehnung der materiellen Welt, immer mit Materialität zusammenhängt [2]. Der Ethnologe führt aus, dass das Phänomen der Immaterialität durch praktische Interaktionen mit der materiellen Umgebung im Alltag produziert wird und sich entfaltet.

Durchgangslager sind Orte, die dicht mit Immaterialität – abwesenden und dennoch präsenten Besitztümern - verwoben sind. Im Alltäglichen "tun" die Bewohner*innen ganz alltägliche "Dinge", die auf die materielle Leere ihrer Situation verweisen. Sie ersetzen zum Beispiel ehemalige Haushaltsgegenstände durch andere, oft unpassende und unbekannte, verfügbare und erschwingliche Dinge, wie Standardgeschirr, unbekannte Kochzutaten, gebrauchte Kleidung und so weiter.

Hier ist es wichtig, die Beziehung der einzelnen Personen zu den zurückgelassenen oder zerstörten Besitztümern zu verstehen, sowie die Bedingungen, unter denen sie Familien, Häuser, Orte und Umgebungen verlassen haben, beispielsweise in Kriegskontexten. Für viele LGBTIQ-Personen, Frauen oder politische Aktivist*innen bedeutet Immaterialität nicht nur den Verlust oder das Zurücklassen von Dingen, sondern vielmehr eine Ablehnung bestimmter materieller Kulturen, die sie mit Unterdrückung in Verbindung bringen. Eine Person, die eine "chronische Krise" des Verlustes von gesammelten Errungenschaften und Besitztümern erlebt [3] (siehe auch Gestohlene Lebenszeit), gibt es in der Zwischenzeit wohlmöglich auf, sich ein richtiges Zuhause einzurichten.

Das Gewöhnen an neue Umstände und Materialien findet jeweils in den nicht-materiellen Dimensionen des früheren Besitzes statt. Das Nicht-Materielle, das Menschen im Laufe ihres Lebens angehäuft haben, hat Abdrücke in Körpern, materiellen Kulturen, Vorstellungen, Ausdrücken und Biografien hinterlassen und formt und verändert die praktischen und sinnlichen Auseinandersetzungen in neuen Umgebungen. Es gibt vielfältige Möglichkeiten, wie Menschen unterwegs während ihrer Reisen und ihres Lebens "Immaterialität akkumulieren". Daher können Ethnograph*innen, die die Materialität von Migration untersuchen, auch wertvolle Beiträge leisten, indem sie die Beziehungen, Praktiken und Wahrnehmungen darstellen, die 'stattfinden', indem sie sich auf abwesende und doch präsente (zum Beispiel durch Emotionen, Erinnerungen, Sehnsucht) Besitztümer beziehen, und darüber hinaus beschreiben, warum Menschen sich weigern, bestimmte Dinge zu benutzen oder sich mit ihnen zu identifizieren.

Mein Argument ist, dass man nicht verstehen kann, wie Menschen zu Dingen in Beziehung stehen, ohne einen Blick auf ihre früheren Beziehungen zu Häusern, Möbeln, Ästhetik oder den damit verbundenen (Moralökonomien zu werfen. Dadurch kann die Ethnographie ein Verständnis für die breiteren sozialen und rechtlichen Bedingungen und Überschneidungen liefern, die z.B. zu Enteignungen führen. Studien, die nur das berücksichtigen, was berührbar und noch vorhanden ist, neigen dazu, die größeren Zusammenhänge zu vernachlässigen, in die die täglichen Wahrnehmungen, Praktiken und Bindungen eingebettet sind. Daher sollte man (nicht nur) in Kontexten erzwungener Migration die Beziehungen zum Materiellen, sondern auch das weite Feld des Immateriellen sorgfältig ausloten.

Das Immaterielle ist sicherlich oft mit Verlust, Trauer (manchmal auch Ablehnung) verbunden, aber es ist nicht immer ein Ausdruck von Entbehrung. Ich traf einen jungen Kurden aus Kobane, der einen weitgehend immateriellen Lebensstil verkörperte. Nach seinen Erfahrungen mit Krieg, Entbehrungen, Gewalt, Ausbeutung und illegalen Grenzübertritten auf seiner langen Reise von Kobane nach Friedland war er an ein Leben ohne bedeutungsvolle Besitztümer gewöhnt.

Aufgrund seiner Erfahrungen war er sich recht sicher, in Deutschland gut zurechtzukommen. Bei verschiedenen Gelegenheiten und in verschiedenen Sprachen antwortete er auf Fragen nach möglichen Besitztümern mit einem Achselzucken und versicherte mir immer wieder, dass er weder Dinge besitzen noch sich nach etwas Neuem sehnen würde. Wertgegenstände waren zu diesem Zeitpunkt für ihn nicht von großer Relevanz. Das Leben und Bewegen ohne (viele) Dinge verband er mit einer Art Freiheit, auch im Kontext der erzwungenen Migration. Während andere sich auf ihren Besitz verließen, vertraute dieser junge Mann auf die Fähigkeiten, die er fern von Kobane entwickelt hatte. So war er zuversichtlich, überall neue Freund*innen zu finden und mit schwierigen Situationen und Ungewissheiten umgehen zu können.

Die Beziehungen zwischen Menschen und der materiellen Welt sind komplex, oft unbewusst, non-verbal und meist anders als erwartet. Was ihre Untersuchung bieten kann, sind Perspektiven unterhalb der 'Schwelle der Repräsentationen'. Ambivalente Beziehungen, ausgelöst durch scheinbar kleine Irritationen, können Positionierungen, Grenzen und Kämpfe um Dinge und Nicht-Dinge sichtbar machen.

Vielleicht sind die Dinge, die nicht von zu Hause mitgebracht werden, häufiger mit Hoffnungen verbunden und für die ethnografische Forschung hilfreicher als gemeinhin erkannt.

Friedemann Yi-Neumann

[1] Sabine Marschall (2019) in ‘Memory objects’: Material objects and memories of home in the context of intra-African mobility. Journal of Material Culture 24(1); auf Seite 14 wird auf diesen weithin vernachlässigten Aspekt hingewiesen.

           

[2] Buchli, V. (2016). An Archaeology of the Immaterial. New York & London, Routledge, S. 26, 27
 

[3] Diese Einsicht verdanke ich Aurora Massa (IRPPS-CNR) und Milena Belloni (Universität Trento) und ihrem spannenden Vortrag über "akkumulierte Obdachlosigkeit" und die komplexen Verfügungsstrukturen bei Fluchtmigration auf dem internationalen mid-term HOMinG-Symposium am 6. Juni 2019, Trento (siehe conference report).

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