Der Rollkoffer

Welche Bedeutung haben alte Koffer, gespendet und aufbewahrt in der Kleiderkammer der Caritas in Friedland? Warum vermögen diese ausrangierten und Spuren und Kratzer des Gebrauchs tragenden Gepäckstücke so heftige Emotionen auszulösen? Diese Fragen haben sich mir während meiner Zeit in der Kleiderkammer gestellt.

Der Rollkoffer – ein Objekt im Transit

Ein der Kleiderkammer der Caritas gespendeter Rollkoffer, auch Trolley genannt. Vier Rollen, an der Seite ein Loch im Nylonstoff, ein Griff ausgerissen. Ein Koffer, bereits häufig genutzt, viele Male be- und entpackt, sichtbar ramponiert und für die ursprünglichen Besitzer*innen inzwischen ohne Wert, von einigen Ehrenamtlichen der Caritas wohl gehütet und für viele der Geflüchteten erstrebenswert. Hier hat er neue Besitzer gefunden: eine geflüchtete Ehefrau mit Mann und vier Kindern. Was bedeutet dieser Koffer für die Familie im Transit, die sich nach zwei Wochen Aufenthalt im Grenzdurchgangslager Friedland auf den Weg zu ihrem neuen Wohnort macht?

Geflüchtete, die in die Kleiderkammer kommen, registrieren in der Regel als erstes die im Vorraum stehenden Koffer, zumeist ältere Modelle ohne Rollen. Während diese älteren Modelle, große und kleine in allen Farben, aus Stoff oder Kunstleder mit einem Tragegriff versehen, im Vorraum stehen, befinden sich im hinteren Bereich, durch einen Vorhang abgetrennt, neuere Modelle von Rollkoffern. Diese sind kinderreichen Familien, allein reisenden Frauen mit kleinen Kindern oder aber älteren Menschen vorbehalten.

Koffer sind dazu da, Kleidung und andere wichtige Dinge ihrer Besitzer*innen zu verstauen und leicht transportieren zu können, Objekte im Transit, nur für einen kurzen Moment in Gebrauch. Keine anderen Objekte in der Kleiderkammer vermögen so viele Emotionen auszulösen, wie diese Gepäckstücke. Bei den Geflüchteten ist das Interesse daran auf den ersten Blick groß. Doch wenn sie etwas ausführlicher in Augenschein genommen werden, macht sich manchmal auch Enttäuschung breit: Kratzer, Spuren des Gebrauchs, kaputte Nähte. Nicht so im Fall des ramponierten Koffers: Als ich ihn, aus dem hinteren Bereich kommend, der Frau zuschiebe strahlt sie mich an, sie wirkt froh, erleichtert, glücklich. Sie stürmt auf mich zu, umarmt mich und küsst mich auf die Wange! Diese Frau und, wie ich später, nachdem sie mich losgelassen hat, bei einem Blick auf den Ehemann sehe, auch ihren Mann habe ich mit genau diesem alten Trolley froh gemacht.

Bei mir bleiben viele Fragen offen: Was steht hinter der besonderen Aufmerksamkeit, die diesen Objekten vonseiten der Geflüchteten zukommt? Und wie muss ein Koffer aussehen, der für die erste Reise in Deutschland und den Neuanfang geeignet ist? Ist die Größe entscheidend, die Handhabbarkeit, das Alter, die Farbe, das Material oder die Tatsache, dass der Koffer modern oder unmodern ist? Oder ist allein der Umstand, dass ich diesen Rollkoffer aus dem hinteren Bereich geholt und der Familie angeboten habe, hier die entscheidende Geste, die Verständnis und Wertschätzung signalisiert?

Auch die Mitarbeitenden der Kleiderkammer schenken den gespendeten Gepäckstücken besondere Aufmerksamkeit. Dies zeigt sich durch die Aufbewahrung an zwei verschiedenen Orten: Welcher Moment gibt den Ausschlag, einen der Koffer entweder weiterhin aufzubewahren oder ihn aus dem hinteren Bereich hervorzuholen? Handelt es sich bei den Fragenden um kinderreiche Familien, alleinreisende Frauen oder aber ältere Personen? Spielt vielleicht die Interaktion selbst eine Rolle, also die Art und Weise der Ansprache oder kann schlicht die Tatsache, einen guten Moment erwischt zu haben, den Ausschlag geben?

Ute Marie Metje

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