Lagerchroniken

Die Lagerchroniken im Museum Friedland dokumentieren die Geschichte des Grenzdurchgangslagers durch Zeitungsartikel und Fotos. Sie dokumentieren jedoch nicht nur die Sichtweise der Lagermitarbeiter*innen, die diese Dokumente gesammelt und eingeklebt haben, sondern sprechen noch ganz andere ‚Sprachen‘.

Eine materielle Sicht auf die Lagerchroniken im Museum Friedland

Betritt man das Museum Friedland, begegnet man im ersten Raum zwei jeweils mehrere Kilogramm schweren Büchern mit mehreren hundert Seiten. Beide wirken gut erhalten und zeigen keine größeren Abnutzungen oder Gebrauchsspuren. Die Bücher werden an der Seite mit dicken Metallnägeln zusammengehalten, ihre hölzernen Buchdeckel sind mit Schnitzereien versehen. Das erste zeigt eine Heimkehrer-/Geflüchtetenfamilie[g1] , einen Mann und eine Frau mit ihrem Kind, sie transportieren ihr verbliebenes Hab und Gut, drei kleine Bündel, mit sich. Frau und Kind wirken sichtlich gezeichnet und gehen eng umschlungen. Der Vater, beschützend hinter ihnen, wirft einen Blick zurück in die Länder und Regionen und die Zeit, die sie ver- und hinter sich gelassen haben, symbolisch angedeutet durch den geöffneten Schlagbaum im Hintergrund. Der Schriftzug „Lager Friedland" an der linken und unteren Seite des Bildes macht deutlich, dass es sich bei dem Buch um eine Chronik des Grenzdurchgangslagers in Friedland handelt. Ganz am Rande sind die Länder und Regionen verzeichnet, aus denen die Bewohner*innen des Grenzdurchgangslagers zwischen 1945 und 1960 – diese Jahre dokumentiert die Chronik – kamen. So lese ich Afrika, Tschechoslowakei, Russland, Polen, Rumänien, Jugoslawien, Ungarn, England, Frankreich und Belgien.

Die zweite Chronik, die die Zeit seit 1961 dokumentiert, ist ebenso beeindruckend und bereits die Gestaltung ihres hölzernen Buchdeckels macht im Vergleich mit dem Buchdeckel der ersten Chronik Veränderungen in Friedland deutlich. Die Flüchtlingsfamilie wurde ersetzt durch die Friedlandglocken, die 1956 – so heißt an entsprechender Stelle der Chronik: „jeden Transport [empfangen], ob morgens oder abends, ob Tag ob Nacht“. Beim Betrachten höre ich die Glocken gedanklich läuten und stelle ich mir vor, wie sie die ‚(Spät-)Aussiedler' – die die zweite Chronik dominieren – begrüßen und in der ‚Heimat' willkommen heißen. Statt des Schlagbaums werden die Grenzen und Herkunftsländer der Menschen nun durch eine Karte symbolisiert, in Großbuchstaben steht dort CSSR, Ungarn und Polen. Pfeile markieren Migrationsrouten der Menschen aus diesen osteuropäischen Ländern hin zur Friedlandglocke, die für Friedland, das Tor zur Freiheit steht. Dass ‚Kriegsheimkehrer*innen' in dieser Zeit zunehmend von (Spät-)Aussiedler*innen abgelöst werden, wird auch in den wiederrum am Rande des Buchdeckels verzeichneten Herkunftsländern deutlich. Dort stehen nun ausschließlich Länder Osteuropas: Sowjetunion, Polen, Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien, Ungarn und Bulgarien.

Als einziges Objekt des ersten Ausstellungsraumes des Museums Friedland füllen die Chroniken in mehreren Hinsichten den Raum. Sie ziehen durch ihre Größe, Schwere und die ungewohnten Holzdeckel meine Blicke – und vermutlich auch die anderer Besucher*innen – an. Hinzu kommt, dass eine Videoinstallation oberhalb der Chronik einen Blick in die Chronik eröffnet. So können Besucher*innen das Lager aus der Perspektive der Lagermitarbeiter*innen erleben, die in dieser Chronik Zeitungsartikel und Fotos sammelten und teils mit eigenen Kommentaren und Überschriften versahen.

Die Chroniken füllen aber auch sinnbildlich den Raum. Die Chroniken sind der Versuch, die Geschichte des Grenzdurchgangslagers in all ihrer Schwere und Bedeutung festzuhalten und für die Nachwelt zu dokumentieren. Die Größe der Chroniken und die aufwändige und liebevolle Gestaltung des Buchdeckels verweisen dabei auf die vielen Erlebnisse, Erfahrungen und Emotionen, die Millionen von Menschen im Transit, auf dem Weg in ein neues Leben hier gemacht haben.

Was ich mich frage, bevor ich einen tieferen Blick in die Inhalte der Chronik werfe, ist: Welche Länder wären dort heute verzeichnet? In welchem Verhältnis stünden die Herkunftsländer der Spätaussiedler*innen mit denen der Asylsuchenden und Kontingentflüchtlinge? Welches Bild würde der Buchdeckel eines dritten Bandes wohl tragen? Und was sagt dies über die Rolle von Friedland und über unseren heutigen Blick auf Flucht und Migration?

Serena Müller

Die Lagerchroniken im Museum Friedland als Spiegel gesellschaftlicher und politischer Debatten

Eines der Objekte, das ich im Museum Friedland besonders schätze, sind die Lagerchroniken. Bereits bei meinem ersten Besuch haben sie mich fasziniert. Nicht nur, weil sie gleich im ersten Raum des Museums zu finden sind und allein durch ihre Größe und Gestaltung beeindrucken, sondern auch, weil es an verschiedenen Stellen des Museums die Möglichkeit gibt, digital durch diese Chroniken zu blättern. So ließ ich mich bereits bei meinem ersten Besuch durch die Zeitungsartikel und andere Dokumente in die Entstehungszeit des Lagers hineinversetzen und konnte die folgenden Entwicklungen nachvollziehen. Die Lagerchroniken erzählten mir nicht nur von den historischen Veränderungen im Grenzdurchgangslager, sondern auch durch Zeitungsartikel von den dahinterstehenden politischen und gesellschaftlichen Debatten.

Aus meiner sozialwissenschaftlichen Perspektive sind diese Verschiebungen in den gesellschaftlichen Debatten sehr spannend, weil sie deutlich machen, wie eng sie mit politischen Entscheidungen verknüpft sind. Wie stark politische Diskurse von Macht und Einfluss geprägt sind und wie machtlos weniger privilegierte Akteure in diesen dominanten Diskursen sind bzw. wie viel möglich ist, wenn etwas von den politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen gewollt ist: Insbesondere die große Hilfsbereitschaft gegenüber den Boat People aus Vietnam in den 1970er- und 1980er-Jahren auch in und um Friedland lässt sich durch das damalige antikommunistische Klima erklären. Und auch heutige Debatten um Flucht und Migration sind von diesen Wechselwirkungen gekennzeichnet: 2015, als sowohl der politische als auch der gesellschaftliche Diskurs für ein offenes Europa und eine Unterstützung von Geflüchteten plädierten, waren durch die sich ausbreitende Solidarität Dinge möglich, von denen wir heute nur träumen können: Zivilgesellschaftliche Stimmen, die für Humanität, Asylrecht und offene Grenzen plädieren, verhallen heute oft ungehört, weil sich das politische Klima gewandelt hat und andere politische Weichenstellungen vorgenommen werden.

Gleichzeitig machen die Chroniken aber auch deutlich, dass es immer wiederkehrende Kontinuitäten in den Debatten gibt. So dokumentieren Artikel aus den 1990er-Jahren öffentliche Debatten über gefälschte Papiere und die Summen, die Menschen bezahlten, um ihre deutsche Abstammung zu belegen. Auch wenn ich sonst bei der Beschäftigung mit Friedland zunehmend den Eindruck gewinne, dass es in der Vergangenheit leichter fiel, die als Deutsch kategorisierten und wahrgenommenen Aussiedler*innen aufzunehmen, erinnert mich diese Debatte überraschend stark an heutigen Auseinandersetzungen um gefälschte Papiere und unrechtmäßige Einreisen, die alle die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden und der Abgrenzung berühren.

Doch die Chroniken dokumentieren nicht nur Wandel und Kontinuitäten in gesellschaftlichen Debatten. Dass sie auch noch ganz ‚andere Sprachen' sprechen kann, aktiver Beziehungen beeinflussen und Gespräche in Gang zu bringen vermag, habe ich bei einem meiner späteren Besuche im Museum erfahren, als ich Samah, eine der museumspädagogischen Mitarbeiterinnen des Museums, bei der Führung unter dem Motto „Mit anderen Augen“ begleitete.

Serena Müller

Die Lagerchroniken im Museum Friedland als Ausgangspunkt von Gesprächen

Wie Samah Al Jundi-Pfaff, die museumspädagogische Mitarbeiterin des Museums Friedland, erzählt, sind Museen in ihrem Heimatland in Syrien sowie in den Herkunftsländern vieler Bewohner*innen des Grenzdurchgangslagers Zeugnisse der Geschichte, etwas Altes und Historisches, das mit dem eigenen Leben nicht viel zu tun hat.

Einen ähnlichen Zugang hatte ich selbst früher zu Chroniken. Sie dokumentierten für mich die Geschichte, machten historische Veränderungen und Kontinuitäten sichtbar und erklärten Zusammenhänge. Für mich waren sie nur insofern aktuell und hatten etwas mit mir zu tun, dass sie bspw. durch die Dokumentation der Vergangenheit unsere heutige Situation, wie politische Tendenzen und gesellschaftliche Strukturen, erklären.

Bei der Führung „Mit anderen Augen“ mit Samah Al Jundi-Pfaff, in der sie Besucher*innen des Museums einen Einblick in die Art der Führungen gab, die sie für Geflüchtete anbietet, die im Grenzdurchgangslager Friedland auf ihren Transfer warten, lernte ich ein ganz anderes Potential der Chroniken kennen und schätzen: ihre Rolle als Mittlerin und damit ihre Fähigkeit, Menschen ins Gespräch und in Beziehung zu bringen und auch neue in die Zukunft gewandte Perspektiven zu entwickeln.

In diesen Führungen lädt die Museumspädagogin Geflüchtete dazu ein, ausgehend von den Chroniken über Fotoalben, die in den eigenen Familien beispielsweise nach Hochzeiten erstellt werden, nachzudenken. Dann sprechen sie über Familienbeziehungen, über das, was sich verändert hat und was sie verloren haben; aber auch über das, was sich Neues entwickelt, über Friedland und die Perspektiven. Auch wenn dies oft keine glücklichen Geschichten sind, bemüht sich Samah Al Jundi-Pfaff dabei, die einzelnen Menschen wertzuschätzen und mit ihren einzigartigen Geschichten zu Wort kommen lassen. Dabei versteht sie sich als eine Art Sozialarbeiterin, die den Bewohner*innen hilft, über ihre Erfahrungen zu sprechen, sie damit ein bisschen zu verarbeiten und ein Gefühl der Gemeinsamkeit unter den Menschen zu entwickeln. Denn für sie steht immer ein Gefühl im Vordergrund, das sie in diesen Führungen zu vermitteln sucht: „Salamstan, Friedland, ist ein Land des Friedens, lasst uns den Frieden feiern, lasst uns den Augenblick leben und genießen“

Mein Aha-Effekt in Bezug auf die Chronik war deshalb vermutlich mit den Erfahrungen und dem Gefühl zu vergleichen, die Samah bei Geflüchteten beschrieb, wenn sie merken, dass das Museum auch mit ihnen etwas zu tun hat, dass es durch ihre Geschichten jeden Tag neu entsteht. Ich war an diesem Nachmittag fasziniert davon, welche unbekannten Perspektiven und für mich bisher verborgene Potentiale in den Chroniken stecken. Sie können auch Ausgangspunkt für Gespräche sein, die positive Gefühle und Einstellungen entstehen lassen, und damit sind sie nicht nur auf die Vergangenheit bezogen, sondern verdeutlichen aktuelle Bezüge, beeinflussen Perspektiven, Emotionen und Einstellungen und damit unsere Zukunft.

Serena Müller

Materialität der Migration
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