Photography Installation by Dinh Q. Lê at Rice University Art Gallery, Houston, TX.

Überquerung des fernen Ufers

Die Fotoinstallation Crossing the Farther Shore des Künstlers Dinh Q.Lê ist ein visuelles Archiv, das vor allem Stimmen der südvietnamesischen Bevölkerung aus der Zeit vor 1975 enthält und erzählt, deren Geschichten entweder vom kommunistischen Regime ausgelöscht oder von den internationalen Medien überlagert werden.

Überqueren, aber nie ankommen

Die Geschichte handelt von Migrationserfahrungen und Emotionen, die in das Kunstwerk Crossing the Farther Shore des Künstlers Dinh Q.Lê eingebettet sind, der als vietnamesische „boat person“ in die Vereinigten Staaten von Amerika kam.

Die Kunst von Dinh Q.Lê (Lê Quang Đỉnh auf Vietnamesisch) ist eine Nachkriegsrekonstruktion von versteckten Räumen, verlassenen Geschichten und stummen Stimmen, die direkt mit den Erfahrungen des Künstlers als vietnamesischer Asylbewerber in Kalifornien verbunden sind. Crossing the Farther Shore ist ein bemerkenswertes Beispiel für diese Art Kunst: Das Kunstwerk in Form eines rechteckigen Moskitonetzes ist eine Installation aus tausenden ineinander verwobenen alten Fotografien, die glückliche Momente, Gedanken und Geschichten vor allem von Südvietnames*innen aus der Zeit vor 1975 zeigen, die ihr Leben im Krieg verloren haben, oder wie der Künstler selbst aus dem Land geflohen sind. Diese Fotos wurden in einer Vielzahl von Touristenläden in Hồ Chí Minh Stadt (ehemals Sài Gòn) gesammelt und in ein visuelles Archiv verwandelt, welches die verborgenen Stimmen enthält und erzählt.

Crossing the Farther Shore ist von Träumen der Mutter des Künstlers inspiriert. In ihren Träumen besuchte sie oft ihre Heimat, wo sie mit ihrer geliebten Familie, Verwandten und Freund*innen sehr glücklich war, wo ihr Leben noch nicht losgelöst von all dem war. Dieses Leben ist nie erzählt worden, weder in Vietnam noch von der ganzen restlichen Welt. Es wird entweder vom kommunistischen Regime systematisch ausgelöscht oder von Kriegsopferberichten in den internationalen Medien überschattet. Es ist ein anderes Vietnam, das der Künstler in Crossing the Farther Shore unbedingt zeigen will. In Form von Moskitonetzen, die von der Decke bis zum Boden herabhängen, erlaubt das Kunstwerk den Besuchenden, einige Details, aber nicht das Ganze, ausschließlich von der Außenposition aus zu betrachten. Ebenso kann ein Leben kaum von einer außenstehenden Person wahrgenommen werden, sondern nur von der Person, die es durchlebt hat.

Die Kunstform selbst aber erinnert mich als Vietnamesin an die gemütliche Zeit und den Raum, in dem die Menschen am Ende der langen Arbeitstage ihre kostbaren Momente teilten. In den Netzen versammelten sich die Kinder um die Mütter oder Großmütter, hörten ihren Geschichten zu und fanden Trost in ihrer Gesellschaft. Auch konnten sie einfach Wärme teilen, indem sie Seite an Seite lagen, bis sie einschliefen und träumten. Das waren die Momente, in denen die Lasten des Lebens weit weg schienen. Das war das typische Leben, bis überall in Vietnam Hochhäuser auftauchten - das Leben vor den 1990er Jahren.

Aufgewachsen im Süden vor 1975, teilt Dinh Q.Lê die gleiche Kindheitserfahrung im Moskitonetz. Doch die Vereinigung des Landes trennte den kleinen Jungen aus dem Süden ironischerweise von diesem Leben und warf ihn in die riesige Welle Geflüchteter, die unter dem Namen "Boat People" die Flucht ergriff und über den Ozean schwappte. Auf einem der Boote überquerte Dinh Q.Lê zusammen mit seiner Mutter das Meer. Da er ständig bei seiner Mutter blieb, ging er unterwegs nicht verloren und die Bindung zwischen Mutter und Sohn, vor allem nach dem Tod des Vaters, schien noch viel stärker zu werden. Eine solch enge Beziehung zu seiner Mutter half Dinh in dem Gefühl, dass ihre Seele und ihr Herz noch in der zurückgelassenen Heimat verblieben. So befand sich nur ihr Körper in dem neuen Land. Schließlich wurden diese Erfahrungen in Crossing the Farther Shore in ein „unvollständiges Gefühl der Überquerung, aber niemals Ankommen“ umgewandelt, wie es der Künstler einmal beschrieb.

Bùi Kim Đĩnh

(Archäologin und Anthropologin,

Doktorandin Universität Göttingen)

Die Geschichte basiert auf dem Interview mit Dinh Q.Lê am 29.05.2017 und dem Video, das von Walley Films im Auftrag der Rice University Art Gallery, Houston, Texas im Jahr 2014 gedreht wurde.

Dinh Q. Lê: Crossing the Farther Shore

Video erstellt von Walley Films, in Auftrag der Rice University Art Gallery, Houston, Texas.

Materialität der Migration
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