Das Gebetbuch

Ein kleines Gebetbuch, ursprünglich als eines von vielen Objekten auf der Straße in Homs in Syrien verteilt, befindet sich heute als ständiger Begleiter in einem hellbraunen, ledernen Geldbeutel. Ein Objekt, das eine anstrengende Flucht von Syrien über Ägypten und das Mittelmeer hinter sich hat und das sein Besitzer Monzer auch heute noch als schützendes Objekt mit sich trägt.

Das Gebetbuch

Das Gebetbuch ist sehr klein; es ist ca. 4x3 Zentimeter groß und besteht aus einem hellen, ledernen Material. Auf der Vorderseite des Buches befindet sich neben Homs, dem Namen Monzers Herkunftsstadt in Syrien, der Schriftzug „Subhan-Allah“, was etwa mit „Ehre zu Gott“ übersetzt werden kann. Auf der Rückseite befindet sich der Schriftzug „Muhammad“, der Name des Gesandten Gottes und zentralen Propheten im Islam. Die Schriftzüge sind grün und kunstvoll in grünen Ornamenten dargestellt. Im Gegensatz zu dieser künstlerischen Gestaltungsweise ist das kleine Buch sehr von Monzers Fluchtgeschichte gezeichnet, hat Risse und wirkt an einigen Stellen aufgeweicht. Die Seiten des Gebetbuches sind durch eine große Heftklammer zusammengetackert. Das Buch an sich enthält eine Sammlung besonders zentraler Suren des Korans. Davon sind für Monzer die Suren An-Nas, Al-Ikhlas und Al-Falak am bedeutendsten geworden. Die Suren An-Nas und Al-Falak sollen vor üblen inneren wie äußeren Einflüssen schützen, der kurzen Sure Al-Ikhlas wird eine besondere Schutzfunktion zugesprochen.

Das Gebetbuch wurde Monzer von einer Frau auf der Straße in Homs, Syrien, geschenkt. Zu diesem Zeitpunkt ist das Gebetbuch weder für Monzer noch für die Frau und die Passant*innen, die es entgegennehmen, ein besonderer Gegenstand. Die Bücher werden vielmehr wie Informationsmaterial an die Passant*innen ausgeteilt, viele Menschen beachten die Frau oder die Bücher nicht einmal, einige nehmen sie an, werfen jedoch keinen Blick hinein oder stecken sie achtlos in ihre Taschen. Die Gebetbücher sind an dieser Stelle nicht voneinander zu unterscheiden und besitzen den gleichen Wert. Monzer nimmt ein Gebetbuch der Frau an und trägt es seitdem in seinem Geldbeutel mit sich – zunächst zu seinen Jura-Prüfungen in Syrien, später auf seiner Flucht nach Deutschland. Er bezeichnet es als „Schutz“, der ihm durch jedwede schwierige Situation geholfen hat.

Während seiner Flucht in Ägypten liest Monzer die Suren des Gebetbuches regelmäßig und betet fünf Mal am Tag. Dies ändert sich, als er über eine Sammelstelle von Alexandria aus mit weiteren 300 Menschen auf einem Schlauchboot die Flucht über das Mittelmeer ergreift. Auf dem Boot verzichtet Monzer darauf, die Suren des Gebetbuches zu lesen; zu groß ist die Gefahr, dass das Buch aufgeweicht werden oder verloren gehen könnte. Um die Verbindung zu den Suren und Inhalten aufrechtzuerhalten, sagt Monzer leise Bittgebete (Duas) auf. In diesen Momenten, so beschreibt es Monzer, ist Allah neben ihm und leistet ihm Unterstützung für die weiteren Tage auf dem Boot. Ohne das Gebetbuch und das Aufsagen der Bittgebete hätte Monzer, da ist er sich sicher, die Flucht nach Italien nicht überlebt.

Aus einem in großer Anzahl produzierten und wahllos unter den Passant*innen in Homs verteilten Massengut ist für Monzer ein besonderes Objekt geworden, das für ihn keinen vergleichbaren Wert – etwa zu den anderen verteilten Gebetbüchern – einnimmt.

Igor Kopytoff beschreibt in seinen Erläuterungen zu der „kulturellen Biografie von Objekten“ [1] eine solche Entwicklung als Wandel einer „Commodity“ [2], eines Warengutes, hin zu einem einzigartigen, mit exklusivem Wert versehenen Objekt. Das Gebetbuch befindet sich nicht mehr in seiner ursprünglichen „Tauschsphäre“ [3], in der es gegen vergleichbare Objekte hätte eingetauscht werden können, sondern besitzt durch die gemeinsamen Erlebnisse auf Monzers Flucht einen besonderen Wert. Es ist zu einem unveräußerlichen Objekt geworden.

Das ist auch der Grund dafür, dass Monzer das Gebetbuch immer noch als ständigen Begleiter in seinem Geldbeutel mit sich trägt: Er sagt zwar heute nicht mehr die Duas (Bittgebete) auf wie auf dem Schlauchboot, doch profitiert er immer noch von der schützenden Kraft des Buches. Er ist fest davon überzeugt, dass es ihn auch heute noch vor allen Gefahren bewahrt, die ihm das Leben bereitet.

Katharina Brunner

[1] Siehe: Igor Kopytoff (1986): The cultural biography of things: Commoditization as a process. S. 64-91. In: The Social Life of Things: commodities in cultural perspective. Edited by Arjun Appadurai. New York, Melbourne: Cambridge University Press.

[2] Ebd. S. 71.

[3] Kopytoff beschreibt in dem angesprochenen Essay drei Tauschsphären, unter denen sich jeweils unterschiedliche Objekte gegeneinander eintauschen lassen. Befinden sich die Güter in einer Tauschsphäre, sind sie ein Warengut, eine „Commodity“. Wenn sie einen besonderen Wert zugesprochen bekommen, fallen sie aus ihrer Tauschsphäre heraus. Diesen Prozess nennt Kopytoff „Singularization“. (siehe ebd. S. 73).

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