Gestohlene Lebenszeit

Die Geschichte von Arif Ibrahim, der vor dreizehn Jahren nach Europa kam, steht paradigmatisch für die Situation von Asylbewerber*innen, die sich auf Grund des europäischen Asylsystems in einem dauerhaften Zustand der Unsicherheit durch Illegalisierung, (drohende) Abschiebungen und ökonomische Prekarität befinden. Diese Menschen werden systematisch ihrer Lebenszeit, Möglichkeiten, Errungenschaften und ihrer Dinge bestohlen.

Gestohlene Lebenszeit

Wie kann Zeit gestohlen werden und wer stiehlt sie? Wie wird die Zeit der Migrant*innen gestohlen und wie beeinflusst dies das Leben dieser Menschen längerfristig? Der Ethnologe Shahram Khosravi argumentiert, dass Migrationsregime Geflüchtete systematisch ihrer gesparten, verbrachten und investierten Zeit berauben. Migrant*innen investieren Zeit in das Arbeiten, in das Einzahlen in die Sozialversicherung, und natürlich in das Aufbauen von Freundschaften, eines Zuhauses und die Familiengründung. Temporäre Aufenthaltsgenehmigungen, Abschiebungen und das Dubliner Übereinkommen, das viele Asylsuchende in Europa auf Jahre in ständiger Bewegung hält, schaffen Unsicherheiten, die diese Bemühungen der Migrant*innen aufheben.

Während ich Khosravis kurzen Text über die gestohlene Zeit las, erinnerte ich mich an die Lebensgeschichte von Arif Ibrahim. Zusammen mit meiner Kollegin Maliheh Bayat Tork, der ich diesen Kontakt verdanke, traf ich Arif im Dezember 2018 im Durchgangslager Friedland für ein erstes Interview. In diesem und weiteren Treffen, erfuhren wir die Geschichte von Arif – seine komplizierte und tragische Biographie, die mit Arifs freundlichem Charakter und seiner scheinbar unendlichen Geduld im Widerspruch zu stehen schien. Er musste sich in Geduld üben, um dreizehn Jahre des Hin und Hers zu überleben; dreizehn Jahre in denen er regelmäßig alles verlor und in unterschiedlichen Ländern, an unterschiedlichen Orten wieder von vorne anfangen musste; dreizehn Jahre in denen er Sprachen lernte, Beziehungen aufbaute und hinter sich ließ und seine ganze Familie verlor. In dieser Zeit überlebte er mehrere lebensgefährliche Attacken von griechischen Neonazis, die dazu führten, dass er langfristig mit einem Organschaden leben muss.

Nachdem Arif über den Iran und die Türkei aus Pakistan geflohen war, arbeitete er für sieben Jahre in Griechenland als Koch. Wegen der Finanzkrise und der Drohungen gegen Migrant*innen verließ er Griechenland und schaffte es nach Belgien, wo er erstmals registriert wurde. Allerdings waren die Lebensbedingungen so hoffnungslos – er war obdachlos, schlief unter Brücken und manchmal für ein oder zwei Nächte bei Bekannten aus Pakistan – dass er entschied, nach Deutschland zu kommen, wo er plante sich eine aussichtsreichere Zukunft aufzubauen. Da er als erstes in Belgien registriert worden war, argumentierten einige deutsche Bundesländer, dass die Verantwortung für seinen Fall in Belgien liegen würde und brachten ihn einige Male dorthin zurück. „Seit fünf Jahren schießen sie mich wie einen Fußball hin und her“ kommentierte er dazu.

Trotz dieser Schwierigkeiten schaffte er es, für achtzehn Monate eine Vollzeitbeschäftigung als Koch in einem italienisch-rheinland-pfälzischen Restaurant zu erhalten. Er mietete eine Wohnung, kaufte sich ein Bett und einen Kleiderschrank – „alles“ erzählte er. Seit langer Zeit hatte Arif wieder ein Zuhause.

Als er allerdings wie üblich versuchte seine Duldung bei der Ausländerbehörde zu verlängern, wurde ihm die Verlängerung verwehrt. Dies nahm ihm die rechtliche Basis für sein Zuhause, dass er sich gerade erst aufgebaut hatte und er musste seine Wohnung verlassen. Da er keine andere Wahl hatte, musste er alles – all die Möbel, die er gekauft hatte – zurücklassen. Sie wurden nun zu Sperrmüll am Straßenrand. Am schlimmsten war es für Arif, den Flachbildfernseher wegzugeben, den er vom Restaurantbesitzer als Geburtstagsgeschenk erhalten hatte. Er gab den Fernseher an einen Bekannten und begann erneut von Null.

Nach diesem Vorfall versuchte er für mehrere Monate in Norditalien Fuß zu fassen. Allerdings war er gezwungen, das Land zu verlassen und entschied sich, erneut in Deutschland Asyl zu beantragen. So kam er im November 2018 in das Durchgangslager Friedland, seiner vorerst letzten Station in einem endlosen Schwebezustand ohne eine Aussicht auf Besserung. Wie konnte er unter solchen Umständen weitermachen? Welche Rolle spielten materielle Objekte in seinem Fall?

Wirklich nichts? Wenn beim Rückblicken und Vorausschauen die Perspektive fehlt

Während meiner Besuche in seinem Zimmer versuchte ich regelmäßig herauszufinden, ob es etwas gab, was er während dieser schwierigen Jahre bei sich getragen hatte – ein Andenken, ein Objekt, auf das er sich verlassen konnte, ein Glücksbringer, oder etwas Ähnliches. Ursprünglich dachte ich, dass meine Unfähigkeit, eine “signifikante Materialität” zu finden, an meinem Scheitern als Ethnologe lag. Aber mit der Zeit wurde es immer offensichtlicher: Arif besaß keine persönlichen Dinge im engen Sinne von biographischen Objekten.

Seiner Aussage und Aufzeichnung zufolge wurden Arifs beide Brüder 2005 bzw. 2012 in Schießereien im Vorbeifahren von bewaffneten Räubern getötet, in einem Dorf nahe der Stadt Gujrat in der Provinz Punjab, wo seine Familie lebte. Sein Vater wurde auf dieselbe Weise im August 2018 ermordet; seine Mutter war bereits 2016 vor Trauer gestorben. Die Morde waren das Ergebnis von Spannungen zwischen den Sunniten und Schiiten in der Region. Er trug nicht mal ein Bild seiner Familie mit sich.

Arif und seine Familie gehör(t)en zu der schiitischen Gemeinschaft. Er floh aus Pakistan, weil er dort keine Zukunft für sich sah. Aber in unzähligen Entscheidungen über sein Asyl in verschiedenen Ländern wurde sein Fall als „nicht berechtigt“ abgelehnt – auch in Friedland. Daher, so erklärte Arif, fehlte es ihm an Perspektiven, weil er nirgendwo mehr hinkonnte, weder in Europa noch in Pakistan.

Unter solchen Umständen lösen sich selbst gegenständliche Habseligkeiten durch die jahrelange Transitsituation in Luft auf. Wie oben beschrieben, verlor Arif seine ganzen Möbel und die meinsten der Besitztümer, die er angesammelt hatte. Als er seine Wohnung verließ (siehe ersten Teil), nahm er sein Mobiltelefon, seine Ersparnisse von rund 1.200€, und eine Hose und zwei T-Shirts, die er in einem kleinen Rucksack trug, mit sich. Danach schaffte Arif abgesehen von einem Paar Sneakers keinerlei neue Dinge an.

Für Arif war der Verlust der meisten seiner Habseligkeiten nicht deshalb so erschütternd, weil sie einzigartig waren, sondern weil sie materielle Manifestationen eines normalen Lebens waren, das fast zum Greifen nahe war. Natürlich konnten seine wenigen verbliebenen Habseligkeiten nicht das Gefühl reproduzieren, in seinem eigenen Zuhause zu leben. Dieses Zuhause war ein persönlicher Raum, der ihm die Aussicht auf ein mögliches Leben inmitten der Dinge eröffnete, die er sich mühsam angeeignet hatte. Im Transit zu leben bedeutet, dass ein solches Zuhause - in dem man etwas Privatsphäre haben oder einfach nur fernsehen kann - unmöglich wird.

Dieser Mangel an Privatsphäre und Perspektiven drückte sich in Depressionen und mangelnder Motivation aus. Halb krank, verbrachte Arif einen Großteil des Tages dösend - unfähig zu schlafen, weil ihm existenzielle Fragen im Kopf herum schwirrten. Wie viele andere Geflüchtete, die ich kennengelernt hatte, hatte er normalerweise die Rollläden seines Zimmers heruntergelassen und den Heizkörper ganz aufgedreht, weil es draußen so kalt war. Er war jedoch rastlos und erschöpft und verlor in den dunklen Wintertagen in Friedland manchmal den Überblick über die Tageszeit oder den Wochentag.

Als seine Verlegung in ein anderes Lager am Stadtrand von Braunschweig näher rückte, änderte sich Arifs Gemütszustand. Er begann, nach einem Teilzeitjob in der Nähe des neuen Ortes zu suchen. Ich musste griechische und italienische Restaurants ausfindig machen (da er keine lateinischen Buchstaben lesen kann), während er dort anrief und in fließendem Griechisch und Deutsch mit ihnen sprach. Aber er erhielt nur Absagen, wohl wegen seines Akzents. Er war an solche Enttäuschungen gewöhnt und versuchte, sie nicht allzu schwer zu nehmen.

Doch wie sollte er wieder und wieder Hoffnung schöpfen, wenn es nichts - gar nichts - gab, woran Arif sich festhalten konnte?

Friedemann Yi-Neumann

[1] Khosravi, Shahram. 2018. Stolen time. Radical Philosophy, 2(3): 39-41.

[2] Die Dublin-Verordnung bestimmt die Verantwortlichkeiten (vor allem) der EU-Staaten dabei, Asylsuchenden zu erlauben, Asyl zu beantragen, basierend auf dem Ort ihrer ursprünglichen Registrierung; siehe auch Ammirati, Annapoala. 2015. What is the Dublin Regulation. Electronic Document. https://openmigration.org/en/analyses/what-is-the-dublin-regulation/ [04.03.2019]

[3] Pseudonym

Materialität der Migration
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