Ein Pullover für die Flucht

Ein ausgewaschener grauer Kapuzenpullover, schwarze Turnschuhe, eine abgewetzte Jeans. Die Hose und den Pullover trug der junge Syrer Fahed Kalaji, als er mit 18 Jahren aus der Türkei nach Deutschland floh. Das war im Frühjahr 2016, kurz bevor die Balkanroute komplett abgeriegelt wurde. Die Schuhe kamen ab Kroatien zum Einsatz, als ihm das erste Paar von den Füßen fiel – ruiniert von den tagelangen Fußmärschen über die grüne Grenze. Fahed ist ein umsichtiger Mensch. Sicherheitshalber hatte er die schwarzen Turnschuhe als Ersatz eingepackt. Sämtliche Kleidungsstücke stammen aus der Türkei, wohin er mit seiner Mutter und seinen Brüdern aus Syrien geflohen war. Aus seiner Heimatstadt Aleppo besitzt er nichts mehr. Die Kleider bedeuten Fahed viel, sagt er, vor allem der graue Kapuzenpullover. Er trug ihn auch im Grenzdurchgangslager Friedland. Neu einkleiden wollte er sich dort nicht, wollte keine Kleiderspenden annehmen. Vielmehr war er entschlossen, es selbst zu schaffen, ohne fremde Hilfe.

Jetzt, mehr als drei Jahre später, lebt der inzwischen 21-Jährige in Göttingen, besucht die 12. Klasse des Gymnasiums. Fahed will das Abitur nachholen, vor dem er bereits gestanden hatte, ehe er die Türkei verließ. Während der gesamten Zeit, in der er in Göttingen Fuß fasste, Deutsch lernte, eine Wohnung fand und Freunde, waren die Kleidungsstücke aus dem Blick geraten. Dabei waren sie ihm wichtig, er wollte sie gerne behalten. Angezogen hat er sie seitdem aber nicht mehr, nicht einmal anschauen wollte er sie sich. Er hatte sie versteckt – in der hintersten Ecke seines Kleiderschranks.

Jetzt hat er sich entschlossen, sie dem Museum Friedland zu schenken. Auch die Geschichte seiner Flucht schenkt er dem Museum. Im Zeitzeugeninterview erzählt er, wie er als ‚Luxuskind‘, wohlbehütet mit seinen Eltern und vier Brüdern in Aleppo aufwuchs. Fahed traf sich häufig mit seinen Cousins, mit denen er sich sehr gut verstand. Als die syrischen Regierungstruppen begannen, die Stadt zu bombardieren, war das friedliche Leben jäh zu Ende. Fahed floh mit seiner Familie zunächst in die Küstenstadt Tartus, von dort weiter in die Türkei. Drei Jahre lebten sie in der Hafenstadt Mersin, Fahed besuchte ein arabischsprachiges Gymnasium. Doch nach und nach zogen seine Brüder weiter nach Deutschland. Fahed wollte eigentlich gerne in Mersin bleiben, aber seine Mutter und seine Brüder drängten ihn, er solle auch nach Deutschland gehen. Freunde rieten ihm noch, auf der Flucht Kleider anzuziehen, die ihm viel bedeuteten. So entschied sich Fahed ganz bewusst für den grauen Kapuzenpullover. Eine gute Freundin aus Aleppo hatte ihn ihm in der Türkei geschenkt.

Schließlich macht er sich Anfang 2016 allein auf den Weg. Er vertraut sich Schleppern an, die ihn mit einer 30-köpfigen Gruppe von Flüchtlingen zunächst mit dem Boot nach Griechenland bringen. Die Menschen, die mit ihm unterwegs sind, wachsen ihm im Lauf der Zeit ans Herz – unter ihnen junge Leute wie er, aber auch Kinder und alte Menschen. Unterwegs gibt es immer wieder gefährliche Situationen. Fahed hat dabei aber nie Angst um sich selbst – er kann schwimmen, ist jung und körperlich fit. Bei der Überfahrt im überladenen Boot überlegt er sich, welches Kind er zuerst aus dem Wasser ziehen würde, falls sie kentern sollten. Bei den eisigen Temperaturen auf dem Balkan hat er Sorge, dass die alten Menschen der Kälte zum Opfer fallen. Doch sie schaffen es alle.

Die Flucht von der Türkei nach Deutschland dauert eine Woche. Dann löst sich die Gruppe auf. Fahed schlägt sich allein durch zu seinem Bruder, der in Saarbrücken lebt. Er meldet sich im Flüchtlingslager im nahen Lebach an. Doch dort will er nicht bleiben, irrt weiter nach Kiel, über Hamburg und Berlin nach Friedland. Wieder ist er eine Woche unterwegs. Das ist seine „zweite Flucht“, sagt er, „die war schlimmer als die erste“. Er ist ganz alleine, vermisst die Gruppe, in der man sich gegenseitig unterstützt hat. Zum ersten Mal seitdem er die Türkei verließ, erlebt er Hunger. Als er von Friedland aus nach Göttingen kommt, endet diese zweite Flucht. Es dauert eine ganze Weile, bis er eine Wohnung findet, in der er sich wirklich zuhause fühlt. Inzwischen ist er in seinem neuen Leben angekommen. Fahed möchte in Deutschland bleiben, er will Lehrer werden für Biologie, Geschichte und Fremdsprachen. „Es war für mich die richtige Entscheidung, nach Deutschland zu gehen“, sagt er.

Eva Völker

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