Sichere Fluchtwege statt Schlauchboote

11. Mai 2019: Ein großes, dunkelgraues, fast schwarzes Schlauchboot auf dem Bahnhofsplatz in Göttingen, das ca. 80-100 Personen aufnehmen kann. Es regnet in Strömen und permanent sind Menschen damit beschäftigt, Wasser aus dem Boot zu schöpfen. Irgendwie wirkt diese Situation auf uns symptomatisch für die Geschichte des Bootes: Menschen versuchten in diesem Boot von Libyen übers Mittelmeer nach Europa zu fliehen. Das Boot besteht zum größten Teil aus einem grauen, harten Kunststoffmaterial und sein Heck schließt mit einer schwarz-weiß bemalten Holzplanke ab. Es ist nicht neu, Schrammen, Flicken und Abnutzungsspuren deuten auf die schwierigen Bedingungen hin, denen es auf dem Mittelmeer ausgesetzt war. An den Seiten des Schlauchbootes hängen laminierte Papierzettel, die gescheiterte Fluchtgeschichten und damit den Tod von Migrant*innen dokumentieren. Seitlich am Schlauchboot sind Hinweise angebracht: „Betreten des Bootes auf eigene Gefahr“.

Während diese Schilder die Göttinger*innen davon abhalten, ins Boot zu steigen, sind die Verzweiflung und/oder die Hoffnung der Menschen, die mit solchen Booten die Überfahrt wagen, größer als ihre Angst vor den vielen Unwägbarkeiten und Gefahren des Mittelmeers. Das Boot wurde 2017 von der Seenotrettungs-NGO Sea-Eye geborgen. Zuvor hatten ungefähr 120 verzweifelte Menschen versucht, mit diesem Schlauchboot von Libyen aus über das Mittelmeer zu fliehen. Die Flucht scheiterte: sie wurden von der „libyschen Küstenwache“ aufgegriffen und wieder zurück nach Libyen gebracht. Was danach mit ihnen geschah – ob sie überlebt, noch einmal einen Fluchtversuch gewagt haben oder in Lagern festgesetzt wurden –, ist ungewiss.

Nun reist das Boot im Rahmen der Proteststaffel der internationalen zivilgesellschaftlichen Bewegung Seebrücke durch Deutschland und wirbt für sichere Fluchtwege, die Entkriminalisierung der Seenotrettung und eine humanitäre Aufnahme von Menschen, die auf der Flucht sind.

Hier auf dem Bahnhofsplatz in Göttingen irritiert das Boot: Es passt nicht so recht in die kleinstädtische Idylle Göttingens und liegt vor allem auf dem Trockenen. Es würde eigentlich aufs Wasser gehören – an Land ist es nutzlos, kann niemanden von einem Ort zum anderen transportieren. Trotzdem ist es ein „moving object“, wie Svašek es nennt.1 Es verändert(e) und bewegt(e) sich nicht nur wörtlich, sondern ist auch ein bewegendes Objekt, das Emotionen auslöst:

Zum einen hat es Menschen während ihrer verzweifelten Versuche, vor der Situation in ihren Heimatländern und der unmenschlichen Lage in Libyen zu fliehen, über das Mittelmeer bewegt, und nun bewegt es (sich) weiter und hat sich dabei gewandelt. Es bekam eine neue Bedeutung und einen anderen Nutzen: im Rahmen der Proteststaffel durch Deutschland hofft die zivilgesellschaftliche Organisation Seebrücke mit dem Schlauchboot, im zweiten Sinne des Wortes, möglichst viele Menschen emotional zu bewegen. Die Seebrücke möchte damit ein Zeichen setzen für ihre Mission: die Umwandlung von möglichst vielen Städten und Landkreisen in „Sichere Häfen“, die sich mit den Flüchtenden solidarisch erklären, die Seenotrettung aktiv unterstützen und sich bereit erklären, über die Verteilungsquote hinaus Menschen in der Stadt oder dem Landkreis aufzunehmen.2

Und die Irritation scheint trotz des schlechten Wetters in großen Teilen zu gelingen. Passant*innen auf dem Bahnhofsplatz bleiben vor dem Boot stehen, einige scheinen betroffen und tauschen sich aus. Auch die angebotenen Flyer und Informationen der Organisator*innen werden in fast allen Fällen angenommen und zumindest kurz durchgelesen. Und auch diejenigen, die an dem Boot vorbeihetzen und es lediglich mit flüchtigen Blicken mustern, scheinen sich dem Thema durch die Größe und Präsenz des Bootes nur schwer entziehen zu können. Denn auch sie kommen nicht umhin, einen Blick auf das Boot zu werfen.

Vermutlich gelingt es aber diesem Boot besonders gut, Menschen emotional zu bewegen, weil es sich um ein originäres Fluchtboot handelt und damit die ‚Sprache‘, die es spricht, besonders authentisch ist. Es ist nicht ein x-beliebigen Schlauchboot, denn jede seiner Gebrauchsspuren und Abnutzungen erzählt von der Gewalt des Meeres, aber auch dem Mut und der Verzweiflung der Menschen, die sich auf dieses Wagnis einlassen. Damit erinnert es auch uns an die dramatischen Auswirkungen, die die Abschottungspolitik der Europäischen Union für die Menschen hat, und damit an die Verantwortung, die wir alle als Bürger*innen Europas tragen.

Serena Müller, Katharina Brunner

[1] Svašek, M., Ed. (2012). Moving Subjects, Moving Objects. Transnationalism, Cultural Production and Emotions. New York & Oxford, Berghan.

[2] Anforderungen der Seebrücke an Städte, die sich zum Sicheren Hafen erklären: https://seebruecke.org/wp-content/uploads/2019/01/Forderungen-Sicherer-Hafen.pdf

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