Materialität und Camps

Am 5. Juli 2020 erhielt ich einige Nachrichten und Videos von meinem Kontakt im Lager Moria in Griechenland. Er erklärte mir, dass es wie üblich [1] zu einem weiteren Zusammenstoß zwischen afghanischen und afrikanischen Flüchtlingsgruppen im Lager gekommen sei. Ein Mobiltelefon wurde gestohlen und dies führte zu einem katastrophalen Blutvergießen, bei dem der Besitzer des Handys, ein ivorischer junger Mann, erstochen wurde und dabei sein Leben verlor und viele andere auf beiden Seiten verwundet wurden. Der junge Mann lag auf dem Boden. Sein Körper schien gut gebaut und kräftig zu sein, aber er blutete stark und machte seine letzten Atemzüge. Jemand aus der afrikanischen Gemeinschaft hielt seine Hand und gab ihm Mut, den Tod anzunehmen, jemand anderes betete und führte eine Art Ritual durch. Die Leute wimmelten um ihn herum und nahmen mit ihren Handys Videos auf. Ich spulte das Video ab und schaute auf die Augen des jungen Mannes, die in der Dunkelheit seiner dunklen Haut leuchteten. Er drehte seinen Kopf stumm von einer Seite zur anderen und schaute die Menschen um ihn herum ungläubig an, als wäre er in einem Traum und würde keinen Schmerz empfinden und hätte keine Ahnung, was vor sich ging. Vielleicht starben mit ihm auch viele Hoffnungen, Leidenschaften und Sehnsüchte.

Das gleiche bekannte Thema: Wo Armut ist, ist auch Gewalt. Aber warum ist das so?

Fast 18.000 Geflüchtete leben im Lager Moria, das eigentlich für 3000 Personen eingerichtet und vorgesehen ist. Menschen, die auf überfüllten Plätzen mit niedrigem Lebensstandard leben, während sie mit Stress und Ängsten wegen ihres Asyl-/Flüchtlingsantrags überfordert sind. Jede*r hat eine eigene persönliche Lebensgeschichte und Probleme; manche haben eine Familie oder ein Leben zurückgelassen, andere nichts. Die Aufnahmegesellschaft Griechenland heißt sie nicht sonderlich willkommen. Die Jugendlichen werden in den Fitnessstudios, in denen sie sich zum Training anmelden, abgewiesen [2], auf der Straße treffen sie auf Passanten, die sich im Vorbeigehen die Nase mit den Händen zuhalten [3], manche verlassen den Bereich des Strandes, in dem Geflüchtete ins Wasser gehen [4].

In einer solchen Drucksituation spielen die Materialität des Lagers sowie die materiellen Gegenstände, mit denen die Person interagiert, eine bedeutende Rolle, sowohl für die Stimmung und das Temperament der Person als auch für die Lageratmosphäre und das Ambiente. Eine beruhigende Infrastruktur würde müde Seelen deutlich besänftigen und frustrierte Menschen davon abhalten, sich zu ärgern. Ähnlich wie ein kühles Zimmer im heißen Sommer, gutes Essen und Trinken, wenn man hungrig ist, bequeme Schuhe, wenn man eine lange Strecke zu Fuß zurücklegen muss und kein Geld für ein Taxi oder einen Bus hat, ein Koffer mit Rollrädern, die es leicht machen, die schwere Last darin zu tragen, Internet-Service, während man die prekäre Zeit im Camp verbringt und ein Handy von guter Qualität, mit dem man auf das Internet zugreifen oder gute Fotos machen kann, ... all das würde müde Nerven heilen.

Defekte Infrastruktur und unfreundliche Materialität hingegen stimulieren die Irritationen weiter: Ein Mann, der gerade vom Anhörungstermin seines Asylantrags zurück ist und wegen seiner Antworten, die sein Asylverfahren gefährden könnten, nervös ist, geht auf die Toilette, die Klobrille ist kaputt, oder es gibt kein Wasser. Als er die Toilette verlassen will, klemmt das Türschloss, er öffnet die Tür mit einem harten Tritt [5] Vandalismus ist also manchmal eine Reaktion auf die Unzufriedenheit mit der materiellen Infrastruktur, die von Eindrücken von Ungleichheit und ungleichen Machtverhältnissen überschattet wird. Darüber hinaus lässt sich Vandalismus mit der Maslowschen Bedürfnishierarchie erklären; Moral steht an der Spitze der Pyramide, nach der Erfüllung physiologischer Bedürfnisse und dem Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit. Eine Person denkt weniger an moralische Angelegenheiten wie den Respekt vor öffentlichem Eigentum und Rechten, bevor ihre physiologischen Bedürfnisse und das Bedürfnis nach Sicherheit erfüllt sind.

Das gleiche Argument gilt für persönlichen Besitz, dessen Fehlen als Armut interpretiert wird. Das Fehlen von Dingen und die Leere von wünschenswerten materiellen Objekten, die durch eine Kombination von Entbehrung, Machtverhältnissen und Verletzung von Rechten in das eigene Leben gebracht werden, könnten negative Gefühle und Affekte wie Wut, Neid, Hass usw. hervorrufen. Ebenso könnten einige Verbrechen wie Gewalt, Diebstahl und Raub die Folge sein. Ein afghanischer Geflüchteter hat ein Mobiltelefon entwendet; das bedeutet nicht, dass alle afghanischen Geflüchteten Kriminelle sind oder dass alle Geflüchteten gewalttätig sind. Aber es bedeutet, dass diese Tragödie eine Folge der Einsperrung von 18.000 Menschen auf engstem Raum unter kritischen Lebensbedingungen ist (siehe Guardian-Artikel unten). 24 Stunden vor diesem Vorfall kündigte die griechische Regierung weitere restriktive Maßnahmen in den Flüchtlingslagern des Landes an, was bedeutet, dass die Geflüchteten während des Touristenstroms an Griechenlands Stränden und Urlaubsorten nicht mehr in die Stadt kommen können [6]. Dank Corona weiß heute jeder, welche physischen und psychischen Folgen ein Lockdown haben kann. Dieser Tod ist eine von ihnen.

Humanitäre Organisationen geben Milliarden der EU-Hilfe für die Infrastruktur der Lager aus und sehnen sich nach Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit als letztendliches Ziel. Wahrscheinlich würde eine beruhigende Infrastruktur, die den Respekt vor den Menschenrechten widerspiegelt, die Erfüllung dieser Ziele besser garantieren. Wenn wir uns wünschen, dass sich die Zwangsmigrant*innen so in die Aufnahmegesellschaft integrieren, dass sie sich als Teil dieser Gesellschaft fühlen, die Normen und Regeln einhalten und zum Wohl der Gesellschaft beitragen, dann müssen wir sie mit Respekt behandeln. Ich erinnere mich an Rasul, den afghanischen Geflüchteten, der am Tag seiner Abreise einen selbstgemachten Grill im Friedland-Garten als Geschenk aufgebaut hat. "...Sie waren freundliche Menschen; ich wollte ihre Freundlichkeit zurückgeben, also habe ich diesen Grill gebaut...", antwortete Rasul, als ich ihn (während der Übersetzung für meine Kollegin Ute Marie Metje) fragte, was seine Motivation war, den Grill zu bauen.

Maliheh Bayat Tork

[1] Nach Aussage meines Informanten sind diese Konflikte alltäglich. Er sagt: "Afghanische Flüchtlinge gehen davon aus, dass afrikanische Flüchtlinge eine höhere Bezüge erhalten, entweder weil sie Christen sind und nicht Muslime wie sie, oder weil sie aufgrund des auffälligen Aussehens der Afrikaner beurteilt werden; Kleidung, Schuhe, Parfüm, gutes Essen und Trinken". "Afrikaner geben ihr Geld für diese Dinge aus, um das Leben zu genießen", fügte er hinzu. (Jede geflüchtete Person erhält 90 Euro Hilfsbezüge pro Monat).

[2] Gespräche eines afrikanischen Asylbewerbers im Lager Moria per Videoanruf-Interview über seine Erfahrungen in Lesbos.

[3] Gespräche eines afrikanischen Asylbewerbers im Lager Moria per Videoanruf-Interview über seine Erfahrungen auf Lesbos.

[4] Arif erwähnte dies in seinen Gesprächen während des Interviews (dieses war in Italien geschehen), siehe https://materialitaet-migration.de/material/stolen-things-and-a-stolen-lifetime/

[5] Ich fragte einen Flüchtling, warum manche Einrichtungen kaputt sind, und er antwortete: "Entweder sind sie durch die Sonne und das heiße Wetter heruntergekommen oder sie werden von Menschen beschädigt..."

[6] https://www.infomigrants.net/en/post/23496/greek-islands-migrant-camps-new-restrictions-to-contain-coronavirus.

https://www.theguardian.com/global-development/2020/jan/17/moria-is-a-hell-new-arrivals-describe-life-in-a-greek-refugee-camp

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