Das Stück Stoff

Was ist dein erster Gedanke, wenn du dieses Stück Stoff siehst? Für was wurde es benutzt? Zu was gehörte es? Das Stück Stoff ist klein und changiert in seiner Farbgebung von beige zu rot. Es durchquerte unterschiedliche Orte, wurde unterschiedlich verwendet und erhielt viele verschiedene Bedeutungen. Dies zeigt, dass migrierende Dinge nicht statisch und unwandelbar sind, sondern sich in einem ständigen Adaptions- und Transformationsprozess befinden.

Das Stück Stoff

Zu Beginn der Geschichte war das Stück Stoff eine ganze Decke. Zwei Wochen nach der syrischen Revolution im Jahr 2012 erhielt Wael die Decke von seiner Großmutter. Zu dieser Zeit lebte er mit seiner Großmutter in Homs, wobei der Rest seiner Familie in ein Gebiet nahe Banias in Syrien vertrieben worden war. Da Wael Gefahr lief, von der Polizei für das Militär eingezogen zu werden, gab ihm seine Großmutter einige Dinge für den Fall der Einberufung: ein Kissen, die Decke und das für Syrien typische Gericht Makdus. Während seiner Zeit in Homs änderte sich die Situation ständig und so zog Wael letztendlich zu seinen Eltern nach Banias und nahm die Tasche, mit den Dingen, die seine Großmutter für ihn gepackt hatte, mit.

In Banias nutzte er die Decke als ein zusätzliches Bettlaken, besonders während der Nächte. Unglücklicherweise änderte sich seine Situation nicht. Da er seinen Wehrdienst nicht weiter hinauszögern konnte, verließ er Banias wieder, diesmal um in den Libanon zu flüchten. Für seine Reise in den Libanon bereitete seine Mutter eine Tasche vor, die sie mit Kleidung, unter anderem warmen Pullovern und Verpflegung und der Decke bepackte. Als Erinnerung an seine Großmutter war diese für ihn sehr wichtig.

Und so verließ Wael Banias im August, kurz nach Ramadan, in Richtung Libanon, wo sein Onkel lebte. Bei seinem Onkel angekommen, erhielt er zum Schlafen eine Matratze und eine Decke, allerdings kein Bettlaken. Er benutzte die Decke, um die Matratze zu bedecken und so fand diese einen neuen Zweck als Bettlaken.

Nachdem er zwei Monate bei seinem Onkel gelebt hatte, zog er mit einem Verwandten der Frau seines Onkels von Tripolis nach Qubeh im Libanon. Zu dieser Zeit war es den beiden nicht möglich eine Wohnung zu mieten und so schliefen sie in einem Laden ohne Strom und ohne Möglichkeit, das Ladenfenster zu bedecken. So fand Wael eine neue Verwendung für die Decke: Sie wurde zu einem Vorhang.

Im Mai 2013 zog Wael in die Türkei, um sich einem Freund anzuschließen, der zu dieser Zeit mit 20 anderen Menschen in einem Laden übernachtete. Dort wurde die Decke nicht als Laken genutzt, sondern als Teppich, als Schutz gegen den dreckigen Boden. Während seiner Zeit in der Türkei übernachtete er in fünf unterschiedlichen Läden und nutzte sie als Decke, Vorhang oder Teppich.

Ein Wendepunkt trat ein, als Wael nach Istanbul zog. Während all der Stationen, die die Decke durchlaufen hatte, bekam sie ein großes Loch, wurde sehr dreckig und immer schwieriger zu reinigen. Aus diesem Grund traf Wael die kühne Entscheidung, eine Ecke von der Decke abzuschneiden. Was fühlte er, als er in die Decke schnitt? War er nicht traurig, dass er nur ein kleines Stück mit sich nehmen konnte, nachdem die Decke so hilfreich gewesen war? Wael drückte seine Gedanken dazu folgendermaßen aus: „Ich werde immer weiterziehen, immer in Bewegung bleiben. Und sie ist so dreckig. Es ist so schwer, sie in meine Tasche zu packen. Der einzige Weg, sie weiterhin bei mir zu haben, ist ein Stück von ihr zu behalten, als Souvenir meiner Großmutter.“ Den Rest überließ er seinen Freund*innen in der Türkei, die nun von den unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten der Decke profitierten. Als er in Friedland ankam, entschied sich Wael dazu, das Stück Stoff dem Museum Friedland zu übergeben. Er war nicht traurig, dass er ein Erinnerungsstück zurücklassen würde. Stattdessen verstand er die Übergabe an das Museum als eine Möglichkeit, seine Großmutter und ihren Beitrag zu seiner Reise nach Deutschland zu würdigen.

Das Stück Stoff zeigt die vielen möglichen Transformationen, die ein Objekt durchlaufen kann, wenn sich die Bedürfnisse ändern und plötzlich eine Decke, ein Vorhang oder ein Teppich gebraucht wird. Außerdem macht das Stück Stoff sichtbar, was im Alltag häufig unsichtbar bleibt – alle Objekte verändern sich ständig. Menschen recyceln Dinge, verändern ihre Nutzung, werfen sie weg oder reparieren sie. Erst unter Bedingungen wie jenen von Fluchtmigration wird dieser Umstand der ständigen Transformation zu einer ‚gefühlten Realität‘. Mit jeder Veränderung der Objekte gehen Emotionen einher und jede Transformation eines Objekts bedarf einer Entscheidung dafür, was gerade am dringendsten benötigt wird.

Wie nutzten Waels Freund*innen wohl den Rest der Decke? Obwohl wir nur raten können, können wir mit Sicherheit sagen, dass es auf diese Frage nicht eine Antwort, sondern viele gibt.


Samah Al-Jundi Pfaff, Katharina Brunner