Die sieben Lagerszenen
Im November 2017 kontaktierte mich der Jühnder Ortsheimatpfleger Hubertus Menke. Sein verstorbener Großvater, Karl Hampe, hatte 1983 über seine Zeit als Soldat im Zweiten Weltkrieg und im Gefangenenlager schriftliche Erinnerungen verfasst. Darüber hinaus hatte Hampe als Schmiedemeister während seiner Zeit im Gefangenenlager und danach zahlreiche Kunstgegenstände angefertigt. Kurz vor dem vereinbarten Termin bei Herrn Menke in Jühnde informierte mich dieser über eine weitere Teilnehmerin am Gespräch: Eine Nachbarin, die interessante Objekte von ihrem ebenfalls verstorbenen Vater mitbringen würde.
Im Gespräch bei Herrn Menke stellte sich schließlich eine über die zufällige Nachbarschaft hinausgehende, sehr direkte Verbindung der Objekte bzw. ihrer Lebensgeschichten heraus: Karl Hampe und Herrmann Günther, der Vater der hinzugekommenen Nachbarin Christine Tabatabai-Günther, hatten sich in der Gefangenschaft im sowjetischen Kriegsgefangenenlager Uljanowsk kennengelernt. Sie waren Freunde geworden und blieben es auch nach ihrer Zeit in der Gefangenschaft. Sie lebten nach dem Krieg beide in Jühnde, wenige Meter voneinander entfernt.
Die ehemaligen Kriegsgefangenen verliehen ihrem Erlebten durch die Kunst Ausdruck. Während Karl Hampe kunsthandwerkliche Produkte, die noch heute an vielen Häusern in Jühnde sichtbar sind, herstellte und seine Erinnerungen aufschrieb, nutzte Herrmann Günther seine vor dem Krieg erlernten Fähigkeiten als Maler. Als 1955 in Jühnde ein Heimatabend anstand, bei dem sich Kriegsheimkehrer*innen und entlassene Kriegsgefangene trafen, malte Günther innerhalb einer Woche eine siebenteilige Bilderserie.
Diese zeigt Szenen aus dem Alltag im Lager: den Weg zum Klosett auf Holzsandalen, den von russischen Soldaten gerauchten starken Tabak der Marke „Maxopka“ oder demütigende Gesundheitsuntersuchungen. Die Bilder bestechen durch eine leicht überspitzte Darstellung der gezeigten Personen, ein ‚leiser‘ Humor karikiert die Härten und Entbehrungen des Lagerlebens. Günther kann sich bei der Wahl seiner Motive durchaus auch auf fremde Darstellungen bezogen haben, es gelingt ihm aber, den Bildern einen ganz eigenen Ausdruck zu geben. Die Darstellung der Szenen erzählen dem Betrachtenden viel über den Umgang des Künstlers mit dem Erlebten.
Günther malte die Szenen jeweils auf 80x30 cm Karton, welcher mithilfe von kleinen Metallklammern aus zwei Stücken zusammengefügt wurde. Die pragmatische Art der Herstellung zeigt die vorgesehene Verwendung. Günther beabsichtigte nicht, Bilder für eine Galerie oder ähnliche Ausstellung zu malen, er wollte im Zuge des Heimatabends Erinnerungen mit anderen teilen und zur Erinnerung anregen. Ihm war es dabei aber wichtig, mit starken Farben und Überzeichnungen einen eigenen Ausdruck zu finden.
Steffen Wiegmann