Familie K. - die zerrissene Familie
Station 1: Atarib, Syrien
Erster Zufluchtsort und vorübergehendes Zuhause für Familie K., nach der völligen Zerstörung des Familienanwesens in Aleppo, war eine Kleinstadt im Norden Syriens, nahe der türkischen Grenze gelegen, Atarib. Den Ausschlag, dorthin zu ziehen, gab die Bekanntschaft mit einem guten Kunden der Familie. Dieser lebte zu dem Zeitpunkt dort und konnte ihnen helfen, sich im neuen Zuhause einzuleben. Herr K. hatte ein kleines Haus mit zwei Räumen, Küche und Bad für die Familie angemietet, insgesamt fünf Personen. In Atarib konnte Herr K. zudem alle verloren gegangenen Papiere für sich und seine Familie neu beantragen und erstellen lassen. Insgesamt hat Familie K. zehn Monate in Atarib verbracht.
Aber auch Atarib wurde mehr und mehr zum Krisengebiet und durch Bombenangriffe zerstört, sodass die Familie nicht mehr sicher war. So entschieden sie sich , weiterzuziehen.
Station 2: Istanbul, Türkei
Die Entscheidung, Syrien bzw. Atarib für einen Neubeginn endgültig zu verlassen, begründete Herr K. mit der zunehmenden Unsicherheit, dem nicht endenden Krieg, vor allem aber mit familiären Kontakten. Eine seiner Schwestern lebt in Istanbul. Dort hatte er die Chance, beruflich neu anzufangen und ein kleines Geschäft zu eröffnen. Die Familie lebte insgesamt für drei Jahre in Istanbul. Während dieser Zeit wird auch ihr viertes Kind geboren, eine Tochter.
Während er selbst beruflich Fuß gefasst hatte, war die Situation für die Kinder problematischer. Anstatt in die Schule zu gehen, halfen sie ihm im Geschäft. Hätten die Kinder eine Möglichkeit gehabt, in das türkische Bildungssystem integriert zu werden, hätte er nicht am UN-Resettlement-Programm teilgenommen. Und so entschied er sich schließlich dazu , seine Familie im UNHCR-Programm registrieren zu lassen. Im September 2018 erfuhren sie, dass die Wahl für sie auf Deutschland gefallen war.
Station 3: Grenzdurchgangslager Friedland in Deutschland
Im Oktober erreichte Familie K. das Grenzdurchgangslager Friedland. Als Kontingentflüchtlinge trafen sie mit rund 200 Geflüchteten, Familien und Einzelpersonen aus der Türkei in Deutschland ein. Sehr schnell, nachdem der Familie ihre Räume in Friedland zugewiesen worden waren, fertigte Herr K. eine Bleistiftzeichnung von Haus Nummer 43 (Zeichnung) an, das für 14 Tage ihr Zuhause war: Ein Zimmer mit drei Etagenbetten, ein Tisch, Stühle und Kleiderschränke.
Auf die Frage, was er aus seinem Heimatland retten konnte und mitgebracht habe, griff er nach seinem Portemonnaie. Er holte einen in der Mitte durchgerissenen halben syrischen 50 Lira Geldschein heraus. Diesen habe er in einem Moment, in dem er sicher war, seine Mutter niemals wiederzusehen, zerrissen. Eine Hälfte habe er seiner Mutter gegeben, die andere Hälfte selbst behalten. Beide tragen diesen halben Schein seitdem bei sich.
Die eingangs gestellte Frage, was das Zuhause für Menschen ausmacht, die sich nach der Zerstörung ihres Zuhauses mehrfach im Übergang einrichten müssen, deren familiärer Lebenszusammenhang vollkommen auseinandergerissen ist (zwei Geschwister und die Mutter leben in Aleppo, ein Bruder im Libanon, eine Schwester in den Vereinigten Arabischen Emiraten und eine in der Türkei) kann hier nur unzureichend beantwortet werden. Die Schilderungen von Herrn K. machen aber deutlich, dass familiäre oder auch freundschaftliche Bindungen der Motor für Aufbruch und Neubeginn sind. Die familiären Bindungen, das Getrenntsein und das über mehrere Erdteile verstreute Leben der Familie kommen symbolisch im zerrissenen Geldschein zum Ausdruck und sind verbunden mit der Hoffnung, dass sich die zwei Hälften wieder zu einem vollständigen Ganzen zusammenfügen.
Samah Al Jundi-Pfaff, Ute Marie Metje