Asylunterkünfte und Home cultures

Erst kürzlich hat mich meine Kollegin Hatice Pınar Şenoğuz mit einem iranischen Ehepaar und ihrer Tochter bekannt gemacht, die in mehreren Durchgangslagern untergebracht waren und nun gemeinsam in einer Folgeunterkunft in Hannover leben. Als Familie aus der gebildeten Mittelschicht, die seit mehr als einem Jahr unterwegs ist, leiden sie unter dem Mangel an Privatsphäre und den fehlenden Möglichkeiten, richtige häusliche und familiäre Praktiken zu etablieren, wie das angemessene Empfangen von Gästen.

Für sie gipfelte ihr Unverständnis der unflexiblen administrativen deutschen Vorstellung von home cultures in dem Moment, in dem das Lagerpersonal Geschirr verteilte: drei Teller, drei Tassen, drei Bestecksätze – eines für jede Person. Empört nahmen sie ihr Geschirr entgegen; es schien für sie ein grundlegendes Missverständnis von Zuhause zu sein. Ein grundlegender Aspekt für sie, sich zu Hause zu fühlen, ist die Möglichkeit, Freunde einzuladen und eingeladen zu werden. Aber wie kann man Leute zu sich einladen, wenn man nicht in der Lage ist, sie zu bewirten? Geschirr für drei Personen ist offensichtlich nicht ausreichend.

Auch wenn sie es sehr schätzten, in Deutschland zu sein, waren die Auseinandersetzungen um das Geschirr und die Unmöglichkeit, auch nur um einen einzigen Gegenstand mehr zu feilschen, als das Personal offiziell vorgesehen hatte, für sie ein Beweis dafür, dass die deutsche Bürokratie nicht willens oder nicht in der Lage ist, zu erkennen, wie wichtig solche Aspekte für andere (home) cultures sind. Die „Wiedererlangung von Würde“, wie sie es nannten, und ein gewisses Maß an selbstbestimmtem sozialem- und familiärem Leben, ist ohne entsprechendes Geschirr nicht möglich.

An solchen Kleinigkeiten lassen sich homing Praktiken aufzeigen, die oft in einem spannungsreichen Verhältnis zu Lagerregeln stehen. Dieses durchaus ungleiche Verhältnis möchte ich mit dem in Verbindung bringen, was Erving Goffman die "Diskulturation" (2014 [1961] S.24) [1] totaler Institutionen nennt. Damit meint er den Verlust und einen Prozess des Verlernens üblicher Gewohnheiten, die normalerweise für das alltägliche Leben notwendig sind, aber in diesem Zusammenhang die Organisationsprozesse von Institutionen stören. Home cultures sind in Lagern allgegenwärtig, aber sie gehören zum "Unterleben (underlife) einer Institution" (ebd., S. 194 [kursiv im Original]), ihrem informellen Teil, der nicht ganz unterbunden werden kann, aber zumindest von Autoritäten eingedämmt werden muss.

Zu viele soziale Beziehungen und Zusammenkünfte in einem Aufnahmezentrum können für die Organisation der Lager eine Herausforderung darstellen. Deshalb wurden Pınar und ich gebeten, uns als Besucher*innen anzumelden und nach Ablauf der Besuchszeit zu gehen. Diese Form der Kontrolle und des Zwangs findet ihren Ausdruck in den begrenzten Zeitrahmen und auch der knappen Essensausstattung, die den Bewohner*innen gewährt werden.

Gleichwohl entwickeln die Menschen Gegenstrategien gegen die institutionalisierte "Diskulturation". Die iranische Familie beispielsweise leiht sich nun Geschirr von Nachbar*innen, um Gäste zu empfangen, was für sie, wie sie schildern, lästig und peinlich, und ebenTeil des von Goffman geschilderten "Unterlebens" ist.

Solche kleine Teilstücke materieller home cultures wie Geschirr, können die Funktionsweisen von Lagern ans Licht bringen und auch die unterschiedlichen Perspektiven darauf und Konzepte davon, was notwendig ist und was es braucht, um in Würde zu leben.

Friedemann Yi-Neumann

[1] Goffman, E. (1961). Asylums. Essays on the Social Situation of Mental Patients and Other Inmates. New York, Anchor. 

Das Buch liegt auch auf Deutsch vor: Goffman, Erwing. (2014 [1961]). Asyl. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt am Main, suhrkamp.

           

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