Über die Unmittelbarkeit der Dinge. Wie die Habe von nichtidentifizierten, im Mittelmeer ertrunkenen Geflüchteten sprechen kann
Interview mit Margherita Bettoni (Journalistin aus Hamburg), vom 31.05.2019
Friedemann Yi-Neumann: Frau Bettoni, am 17. Mai ist im Sueddeutsche Zeitung Magazin eine Reportage über die Dinge von Geflüchteten veröffentlicht worden, die 2015 bei einem Bootsunglück im Mittelmeer ums Leben kamen. Ich möchte Sie bitten, kurz etwas zum Hintergrund dieses Rechercheprojektes zu sagen.
Margherita Bettoni: Das Projekt ist in dem Sinne keine Reportage, sondern es ist eher eine Bilderstrecke mit einem Text im Voraus. Es ist deswegen keine Reportage, weil ich als eine der Textautorinnen nicht vor Ort war, sondern vor allem mit der Forensikerin Cristina Cattaneo gesprochen habe, die hinter diesen Objekten steht. Doch zurück zu Ihrer Frage, wie das Projekt entstanden ist: Die Redaktion des SZ-Magazins, namentlich vor allem die stellvertretende Chefredakteurin Lara Fritzsche, die Kollegin, die den Text mitgeschrieben hat, hatte die Idee, etwas über die Arbeit von Cattaneo zu veröffentlichen. Der Redaktion war bekannt, dass sich die Forensikerin aus Mailand um die Identifizierung von Toten bei großen Schiffsunglücken gekümmert hatte. Und dass sie auch die Objekte, die an den Körpern, also an den Leichen der Menschen oder im Schiff gefunden wurden, katalogisiert und bei sich im Labor archiviert hat. Daraufhin beschloss die Redaktion Kontakt aufzunehmen mit der Idee, diese Objekte zu sichten. Als italienischsprachige Journalistin wurde ich dann Teil des Teams.
FYN: Was kann man zu dem Boot sagen, von dem die Objekte stammen?
MB: Es handelt sich um ein Fischerboot, das am 18. April 2015 im Mittelmeer gekentert ist. Das Boot ist von der libyschen Küste aus gestartet und dann leider im Mittelmeer gesunken. Es gab den Rettungsversuch durch ein anderes Boot, aber das Schiff kenterte dennoch. Es gab gerade einmal achtundzwanzig Überlebende, darunter die Schlepper. Man weiß die Zahl der Toten nicht genau, das Forensik-Team konnte aber mit Sicherheit sagen, dass 600 Menschen an Bord waren. Cristina Cattaneo geht u.a. aufgrund von Aussagen Überlebender davon aus, dass zwischen 600 und 800 Menschen an Bord gewesen sind. Das war der opferreichste Schiffsunfall im Mittelmeer. Im Juli 2016 wurde das Schiff dann unter der Regierung von Matteo Renzi wieder vom Meeresgrund geborgen. Das Forensik-Team hat die menschlichen Überreste, die man noch bergen konnte, analysiert.
FYN: Was aus Ihrem Beitrag hervorgeht, ist, es gibt einerseits diese forensischen Untersuchungen und den Versuch, diese Dinge einzuordnen, wie etwa die SIM-Karten, wo wenigstens grob gesagt werden kann, woher diese Sachen kommen. Andererseits existieren jedoch sehr wenige Informationen über diese Objekte. Trotzdem waren diese Objektbilder sehr wirkmächtig. Was sind denn die Reaktionen auf Ihre Reportage?
MB: Ich habe Rückmeldungen von Menschen aus meinem Umfeld bekommen, von Freundinnen und Freunden, die den Beitrag gelesen haben. Viele haben gesagt, dass sie die Macht der Objekte gespürt haben. Eine Freundin sagte mir, dass sie zu Tränen gerührt war, weil die Dinge sprechen. Auch ich glaube an die symbolische Macht der Dinge. So blöd das klingen mag, aber mit Objekten können sich manche mehr identifizieren als mit ertrunkenen Menschen. Natürlich sind die meisten Menschen schon betroffen, wenn sie Bilder von Ertrunkenen sehen. Aber viele denken: „Die sehen anders aus, ich kann zu diesem Menschen keine Verbindung spüren." Objekte dagegen sind etwas Alltägliches, sie machen anders betroffen.
FYN: Also kann man zusammenfassen, dass Dinge, im besten Fall, als empathische Brücke fungieren können, die in der Lage sind, Rassismen und sonstige Vorurteile zumindest im Ansatz zu überwinden?
MB: Das würde ich auf jeden Fall sagen, ja.
FYN: Die Objekte sind ja nun katalogisiert in die Archive der Mailänder Forensik gewandert. Was passiert denn nun mit diesen Gegenständen?
MB: Cristina Cattaneo, von der Uni Mailand, ist Direktorin eines Laboratoriums, das LABANOF (Laboratorio di Antropologia e Odontologia Forense) heißt. Sie und ihr Team haben unter der Führung des Außerordentlichen Kommissariats für verschwundene Menschen des Italienischen Innenministeriums die Leichen untersucht bzw. die Überreste. Bei vielen Ertrunkenen erinnerte kaum noch etwas an die Menschen, die sie einmal gewesen waren. Übrig blieben oft nur eine große Anzahl Knochen und in den Fällen, in denen es Objekte gab, wurden diese gesammelt. Manche der Objekte waren direkt an den Leichen, andere lagen lose im Schiff. Es ist dann so, dass das Forensiker-Team diese post-mortem-Daten sammelt. D. h., es werden zu den Menschen alle möglichen Daten erfasst die helfen könnten, diese Menschen zu identifizieren, Daten an denen man etwa sehen kann, dass eine Person hinkte, in dem man die Knochen untersucht. Und natürlich können auch Objekte helfen, Menschen zu identifizieren. Diese Objekte werden gehoben, gewaschen und getrocknet, sodass sie in einem guten Zustand katalogisiert werden. Die Gegenstände bekommen dann eine Nummer. Wenn sie an einem Menschen waren bekommen sie ein Kürzel PM, das steht für post mortem, und zudem die Zahl, die auch der Person zugeordnet wurde. Ist das nicht der Fall, werden Objekte einfach mit einer Zahl und einer Abkürzung für den Ort im Schiff, an dem sie gefunden wurden, versehen: auf Deck, vorne oder hinten und so weiter. Die rund 1100 Objekte des Schiffsunglückes von 2015 werden im Archiv des besagten LABANOF gelagert. Bei den Objekten von anderen Schiffsunglücken ist es anders, die werden bei der zuständigen Staatsanwaltschaft archiviert. Wenn sich bspw. Unglücke nahe Sizilien ereignen, dann landen die Objekte bei der Staatsanwaltschaft von Catania.
FYN: Wissen Sie, ob das Wissen, dass über diese Objekte gesammelt wird auch dazu verwendet wird, um Angehörige zu informieren?
MB: Das ist die Schwierigkeit dieser Arbeit. Bei der Identifizierung von Toten gibt es zwei verschiedene Formen von Daten: zum einen die post-mortem-Daten, welche die Forensiker zusammenstellen, und dann gibt es die sogenannten ante-mortem-Daten. Diese Daten können eigentlich nur Angehörige geben. Das sind dann solche Dinge wie, dass eine angehörige Person sagt, „Er hinkte am rechten Bein" oder „Er hatte zwei Zähne verloren". Oder konkrete Angaben wie die Nennung des Namens, Nachnamens, etc. Nur wenn es ein Match zwischen ante-mortem und post-mortem-Daten gibt, kann man einen Menschen identifizieren; das ist eine große Herausforderung.
Cristina Cattaneo sagte, dass das Team auch mit dem Internationalen Roten Kreuz zusammenarbeitet. Ziel ist es, in den jeweiligen Herkunftsländern die Familien darauf aufmerksam zu machen, dass es jemanden in Europa gibt, der versucht diese Toten zu identifizieren. Um erfolgreich zu sein, sollten Angehörige DNA-Proben und weitere ante-mortem-Daten zur Verfügung stellen. Die post-mortem-Daten, die von der Forensik gesammelt werden, verbleiben in den Mittelmeerländern, dort, also, wo die Körper der Ertrunkenen untersucht werden. Die ante-mortem-Daten kommen aus den Herkunftsländern oder aus den Ländern, wo sich die Angehörigen aufhalten. Das ist häufig Nordeuropa, weil die Menschen nach Deutschland, Schweden oder Dänemark gehen.
Es kamen schon einige Familienangehörige nach Mailand, um ihre Angehörigen zu identifizieren. Dabei spielen dann die Objekte eine wichtige Rolle. So kann die Erkennung einer Handschrift oder einer Telefonnummer auf einem Dokument dazu führen, dass eine Person identifiziert wird. Es reicht aber nicht allein Objekte zu erkennen. Vielmehr muss es, wie erwähnt, ein Match beider Datenformen (ante- und post-mortem) geben.
Die Angehörigen zu informieren ist nicht nur wichtig, um Gewissheit über den Tod eines Familienmitglieds zu haben und um trauen zu können. Es gibt auch legale und bürokratische Vorgänge, in denen diese Identifizierung von enormer Bedeutung ist. Ich erinnere mich an die Geschichte eines afrikanischen Kindes, die Cristina Cattaneo erzählt hat. Dieses Kind konnte nicht nach Europa nachkommen, weil man nichts über den Verbleib seiner Eltern wusste. Weil solche Daten fehlten, konnte nicht offiziell nachgewiesen werden, dass das Kind Waise war. Daher ist es umso wichtiger, diese Menschen zu identifizieren. Bislang sind von diesem Schiffsunglück 2015 erst kürzlich lediglich zwei Menschen identifiziert worden und das, obwohl die Körper ja schon 2016 gehoben wurden.
FYI: Das ist es genau, worauf ich hinauswollte. Man hat so viele Dinge geborgen und so wenige Informationen und dann ist vielleicht so eine Fotostrecke, wie die Ihre eine andere Form, wie man diesem Thema Relevanz verleihen kann. Im Bezug darauf, was politisch im Moment in der EU und an den europäischen Außengrenzen passiert, was für eine Antwort könnte die Auseinandersetzung mit human remains und mit Objekten geben, um neue Perspektiven zu eröffnen?
MB: Ich glaube, es ist von wesentlicher Bedeutung, Toten eine Identität zu geben, und das geschieht auch über die Objekte. Ich finde jedoch auch darüber hinaus, dass Objekte zu zeigen eine wesentliche Rolle spielt. Es wird für Menschen schwieriger, sich abzuwenden. Wenn man in den Nachrichten hört, dass 800 Menschen ums Leben gekommen sind, gibt es einen überwiegenden Teil Menschen, der über unsere Politik bereits sehr erschrocken ist. Aber es gibt andere, die lediglich die Zahl wahrnehmen und die menschliche Dimension des Ganzen vergessen. Viele denken nicht aktiv daran, wie viele Menschen bereits im Mittelmeer ertrunken sind. Objekte zu zeigen ist eine andere Form darauf aufmerksam zu machen, was eigentlich passiert ist.
Als 2015/16 so viele Menschen auch in Deutschland angekommen sind, rückten Geflüchtete ins Zentrum der Berichterstattung. Migration ist seitdem immer wieder Thema. Ich finde es wichtig sich als Journalist*in stets neue Wege zu überlegen, wie man dieses Thema, das eine absolute Relevanz hat, bearbeiten kann. Und zwar so, dass man auch jene Leser*innen mitnimmt, die sonst das Gefühl haben: „Nicht schon wieder so ein Artikel über Migration“. Und genau darin besteht meiner Ansicht nach auch die Herausforderung bei der Forschung, dass man es schafft, die Wichtigkeit dieses Themas zu vermitteln.
Cristina Cattaneo, die Forensikerin, beschrieb eindrucksvoll, dass es schwieriger für Menschen wird wegzuschauen, wenn diese das Fußballtrikot eines Kindes sehen oder dessen Basketballhandschuhe. Solche Dinge suggerieren ganz direkt: „Das hätte auch mein Kind gewesen sein können.“ Objekte können einer Sensibilisierung dienen und dabei helfen begreifbar zu machen, was für eine Tragödie sich abgespielt hat und sich angesichts der gegenwärtigen politischen Entscheidungen, zukünftig vielleicht noch vermehrt abspielen wird. Meine Hoffnung ist, dass dies ein Weg ist, zu einer Veränderung beizutragen.
FYN: Frau Bettoni, ich danke Ihnen sehr herzlich für diese spannenden Einblicke in Ihre Arbeit.