Gedanken an der Wand

Bahman ist um die sechzig Jahre alt. Er besitzt ein vegetarisches Restaurant im Stadtzentrum von Göttingen. Er selbst ist allerdings kein Vegetarier. Während der Iranischen Revolution verließ er den Iran, um in Bochum zu studieren.

Nach der Gründung der Islamischen Republik Iran 1979 die Macht im Iran übernahmen, ist Bahman nicht mehr in den Iran zurückgekehrt. Er ist Anhänger einer der Oppositionsparteien, die sowohl während der Regierung des Shahs als auch zurzeit der aktuellen Regierung aktiv waren.

Wir [1] schauten uns in seinem Restaurant nach einem Objekt aus dem Iran um, etwas, dass an sein Herkunftsland erinnerte. Es gab allerdings nicht viele. Eine Kalligraphie auf Persisch, die Bahman erstellt hatte, ein traditionell persischer Stoff, der wie ein Bild an der Wand befestig war. Daneben hing das Bild von Marzieh, der klassischen persischen Sängerin aus den 1970er Jahren, welches meinen Blick auf sich zog. Es handelt sich um ein schwarz-weiß Bild, ein mir vertrautes Gesicht mit einem halbgeöffneten Mund, als würde sie während des Singens etwas laut ausrufen. Als Bahman gefragt wurde, ob Marzieh seine Lieblingssängerin sei, erzählte er, dass es nach der Iranischen Revolution verboten wurde, Frauen in der Öffentlichkeit singen zu hören und so wurde Marzieh untersagt zu singen. In den 1990er Jahren verließ sie den Iran und schloss sich dem National Council of Resistence of Iran in Frankreich an. Später ging sie in den Irak, wo sie sich den Volksmudschahedin anschloss, um das Regime der Mullas im Iran zu bekämpfen. Da er es nicht erwähnte, waren wir uns nicht sicher, ob er ihre Lieder mochte oder sich an ihrer Stimme erfreute. Alles, was er uns über sie erzählte, betraf ihre politische Einstellung, die Brahman sehr schätzte. Er wurde gefragt, ob er ihre Lieder mögen würde, er antwortete „Ja“. Als er gefragt wurde, ob er das Bild von Marzieh auch aufhängen würde, wenn er ihre Lieder nicht mögen würde, antwortete er erneut mit „Ja“.

Ein weiteres kleineres Bild an der Wand zeigte einen uniformierten Soldaten. Wir fragten Bahman, ob das Foto einen Freund oder Verwandten gehörte und er antwortete, dass das Bild einen Soldaten aus Göttingen zeige, der gegen die Nationalsozialisten in den 1940er Jahren gekämpft habe und getötet worden war. An dem Bild angebracht waren noch Aufkleber mit Slogans gegen Rassismus und Faschismus.

Bevor wir die Geschichten hinter diesen Objekten erfuhren, schienen sie alltägliche Dinge zu sein, die für die Dekoration der Wände genutzt wurden oder einfach mit Bahmans Herkunftsland in Verbindung standen. Nachdem Bahman uns die Geschichten hinter den Dingen erzählt hatte, war es als würde sich Bahmans sozio-politische Haltung vor uns entfalten als eine politisch-ästhetische Landschaft an der Wand. Einige dieser scheinbar unspektakulären Dinge waren aufgeladen mit Bahmans politischen Haltungen und Perspektiven.

Nach John Berger materialisieren sich unsere Vorstellungen und Einstellungen zu bestimmten Themen in vielen Fällen in unserem Alltag oder in den Arbeiten, die wir produzieren [2]. Somit beeinflussen die Orte, an denen wir leben, die Erfahrungen, die wir machen und die Landschaft, in der wir aufwachsen, die Wahrnehmung und Gestaltung der materiellen Welt um uns herum. Die Dinge, mit denen wir unsere privaten Räume oder im Fall von Bahman sein Restaurant – einen eher öffentlichen Raum – dekorieren sind manchmal Manifestationen unserer Gefühle, unserer Sehnsüchte und der Dinge, die wir anderen mitteilen wollen. Im Fall von Personen, die aus politischen Gründen Asyl suchen nehmen materielle Objekte häufig eine politische Ästhetik an, die mit persönlichen Geschichten, Erfahrungen und manchmal mit Hoffnungen, Schmerzen oder Hass verbunden ist.

Unsere letzte Frage an Bahman war, warum er das Bild in seinem Restaurant aufgehangen hatte und nicht in seinem Zuhause. Bahman erklärte, dass er auch ein Bild von Marzieh zuhause habe, das Bild im Laden hänge um folgende Botschaft von Marzieh zu vermitteln: „Nein zum islamistischen Regime und Ja zur Freiheit.“ Er sagte weiter: „Ich möchte die Menschen wissen lassen, dass ich Marzieh respektiere, weil sie die Rechte von Frauen verteidigte und gegen die frauenfeindliche Ideologie von Khomeini kämpfte.“ Er fügte hinzu: „Ich habe diese Bilder um mich – zuhause und hier im Restaurant – weil sie für mich einen Hoffnungsschimmer darstellen. Sie lassen mich hoffen, dass das islamistische Regime der Mullas im Iran bald gestürzt wird. Ohne Hoffnung, bin ich tot. Jeden Tag sage ich mir, dass das Regime morgen Vergangenheit sein wird. Ich habe mir das die letzten 40 Jahre gesagt und diese Hoffnung hat mich am Leben gehalten.

Malihé Bayat Tork

[1] Als Freund*innen und Kolleg*innen im Rahmen eines Stadtlabor-Workshops zum Thema immigrierte Unternehmer*innen besuchten wir Bahman in seinem Laden.

[2] John Berger (1980). About Looking. NewYork: Vintage International

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