Der Staub aus einem vergangenen Leben
Um-Abdallah floh mit ihrer Familie (ihrem Mann, der kürzlich eine medizinische Operation durchgemacht hatte, ihren beiden Söhne; 18 und 19 und ihrer 11-jährigen Tochter) aus ihrem Zuhause, als Ende 2012 im Bezirk al-Yarmūk heftige Konflikte ausbrachen und schwere Waffen zum Einsatz kamen. Sie flüchteten zu Verwandten nach Qudssaya bei Damaskus. Sie konnten jedoch nicht lange bei den Verwandten bleiben, da deren Haus überfüllt war. Von diesen Verwandten zu anderen ziehend, fanden sie schließlich ein kleines zu vermietendes Zimmer im Dahiyat Stadtteil in Qudssaya.
Das Leben für Um-Abdallah war von Angst und Schrecken durchwoben; als ihr jüngerer Sohn zur Universität ging, hatte sie Angst, dass er entweder von der Freien Syrischen Armee, der Regierungsarmee oder den IS-Truppen gefangen genommen würde. Nach drei Jahren des Terrors und des Versteckens ihrer palästinensischen Nationalität vor den syrischen Beamten an den in der Stadt verteilten Checkpoints, konnte Um-Abdallah ihren Mann überzeugen, mit ihrem älteren Sohn nach Europa weiterzuziehen, um zu sehen, ob es eine Möglichkeit gibt, dort in Frieden zu leben.
Die Reise von Um-Abdallahs Mann und Sohn führte auf langem Weg zu Fuß und per Boot durch Syrien, die Türkei, Griechenland, Serbien, Österreich, Deutschland bis in die Niederlande - wo sie von der Polizei wieder nach Deutschland zurückgeschickt wurden.
Nach drei Jahren der Trennung wollte Um-Abdallah mit ihrer Tochter ihrem Mann und Sohn nach Deutschland folgen. Es war Frühsommer 2018. Um-Abdallah packte alles ein, was sie mitnehmen konnte: Kleidung, Handtücher, etwas Essen, usw. Aber etwas stimmte nicht. Sie fühlte sich nicht zuversichtlich und war unsicher. Sie fühlte sich, als hätte sie etwas Wichtiges vergessen. Ähnlich wie bei Menschen, die für längere Zeit ihr Haus verlassen wollen und sicherstellen, dass der Strom abgeschaltet oder das Hauptwasserventil geschlossen ist.
Und das war es: Sie konnte nicht für immer gehen, ohne ihr Zuhause ein letztes Mal gesehen zu haben. Sechs Jahre waren vergangen, seit dem Tag, an dem sie ihr Haus verlassen hatten. Sie hatte keine Ahnung, wie es jetzt nach so langer Zeit aussehen würde. Bereits im Mai 2018 hatte sie die Nachricht erhalten, dass die Region al-Yarmūk bombardiert wurde, aber sie wusste nicht sicher, ob ihr Haus zerstört worden war.
Um-Abdallah ging zurück nach Mukhayyam al-Yarmūk. „Nach 6 Jahren bin ich nach Hause zurückgekehrt.", sagte Um-Abdallah. Ein Schlüssel war nicht mehr nötig. Ihr Haus war völlig verwüstet. Zwischen den Trümmern und Ruinen suchte sie nach dem, was übrig geblieben war. Sie blickte in die zerschmetterten Schränke, wo noch immer einige der Jacken ihres Mannes lagen, bedeckt mit Staub und Erde. Alles war unter Schutt und Asche vergraben. Bei ihrer Suche fand sie die kleine Schachtel auf dem Boden. Um-Abdallah hob sie vorsichtig auf und nahm den Karton vorsichtig mit, ohne den Staub davon abzuwischen.
Fünfzehn Tage später verließen Um-Abdallah und ihre Tochter Syrien in Richtung Deutschland. Der jüngere Sohn blieb zurück, da er sein Studium abschließen wollte. Sie brachten die verstaubte kleine Schachtel den ganzen Weg mit sich. Jetzt in Göttingen angekommen, fragte ich Um-Abdallah, ob sie die Box jemals abstauben würde? „Nein", sagte sie, „dieser Staub erinnert mich an mein Zuhause und an das, was wir durchgemacht haben. Das ist das Einzige, was aus der Kindheit meiner Tochter übrig geblieben ist."
Es ist faszinierend, wie mikroskopisch kleine Partikel von Erde und Staubschmutz zu einer objektiven Manifestation von Gefühlen und Emotionen werden! Im Bemühen, die kleine Kiste in meinen Händen zu halten, ohne den Staub darauf zu berühren, kam mir ein Bild in den Sinn - ein Bild von Menschen, die die Urne mit den eingeäscherten Überresten ihrer verstorbenen Liebsten sehr wertschätzen. In diesem Fall war es die Erinnerung an ein verbranntes Zuhause; ein Haus, in dem Um-Abdallah ihre Kinder zur Welt gebracht hatte und täglich in Erwartung der Rückkehr ihres Mannes von der Arbeit und ihrer Söhne von der Schule Mahlzeiten zubereitet hatte.
Der Staub auf dieser kleinen Schachtel könnte als Metapher für die Erinnerung an ein verbranntes Zuhause verstanden werden. Aus einer anderen Perspektive könnte Um-Abdallahs Weigerung, sie abzustauben, mit dem Wert und der Authentizität erklärt werden, die der Staub aus der Vergangenheit dem Objekt verleiht (Frykmann 2016, S.112). Tatsächlich verleiht der Staub der Box mehr Historie und macht so die damit verbundene Geschichte eingängiger.
Obwohl Um-Abdallah die kleine Schachtel sehr schätzt, wünscht sie sich, dass sie davon abgehalten hätte, dorthin zurückzukehren, wo sie sich zu Hause fühlte. „Ich wünschte, ich wäre nicht zu meinem Haus gegangen.", sagte sie. Ich fragte nach dem Grund und sie antwortete: „Weil ich mir gerne alles gut vorstelle. Ich wollte mein Zuhause so in Erinnerung behalten, wie es früher war."
Während unseres Gesprächs wurde das Wort "Home" (Zuhause) von Um-Abdallah mehrmals verwendet; immer wenn sie sich auf das Haus in Mukhayyam al-Yarmūk bezog, welches damals zerstört wurde. Stattdessen benutzte sie den Begriff „Wohnung” [1] oder „Apartment” für den Raum, den sie in Dahyet, Qudssaya, mieteten; vielleicht, weil er temporär war oder nicht mit der Geschichte, den Erinnerungen und Emotionen der Vergangenheit verbunden war, im Gegensatz zu dem Staub auf der kleinen Schachtel, die mit schönen Erinnerungen an Zuhause gefüllt ist, wo eine Frau, eine Ehefrau, eine Mutter ihn sauber und staubfrei hält.
Malihé Bayat Tork