Die Stimme, ist die Einzige, die bleibt

M. Schreibt:

"Was ist die Vergangenheit? Erinnerungen? Waren alle die Ereignisse meines Lebens echt und wahr? oder leben sie nur in meinem Kopf? Alle die Menschen, die ich getroffen habe, waren sie wahr? Meine Kindheit, das Wachsen? Die Revolution, von der ich ein Teil war, die Menschen, die mit mir dabei waren und die Menschen, die ich auf dem Weg verlor…Flucht und Flucht… .Ein Objekt oder ein Beweis, dass diese Vergangenheit beweisen kann, dass diese Vergangenheit existierte. Eine Stimme, die Stimme meiner Mutter erweckt die Vergangenheit zu Leben. Die Stimme, ja, die Stimme ist die Einzige, die bleibt.“

Der Titel dieses Textes stammt von einem bekannten Gedicht von Forugh Farrokhzad1, einer iranischen Dichterin aus den 1950er und 1960er Jahren. M. hat das Gedicht für diesen Text gewählt. M. ist eine Bekannte meiner Familie. Seit ich 2015 für mein Studium nach Deutschland gekommen bin, stehen wir in Kontakt. Migration war immer unser Gesprächsthema.

M., eine iranische politische Aktivistin, war im Jahr 1982 wegen der Unterdrückung gegen Aktivist*innen und Oppositionelle gezwungen, den Iran zu verlassen. Sie floh mit ihrem dreijährigen Sohn über die Grenze im Nord-Iran in die Sowjetunion. Sie konnte ihre Familie und ihre Mutter, die im Süd-Iran lebte, vor ihrer Flucht nicht besuchen. Aber sie nahm ein wichtiges Objekt mit: eine Kassette, auf der die Stimme der Mutter aufgenommen worden war. Die Kassette ist das einzige Objekt, das sie mitgenommen hatte.

Als alleinerziehende Mutter mit ihrem Kind erlebte M. verschiedene Schwierigkeiten während ihrer Migration. Nach der Ankunft in der Sowjetunion arbeitete sie für ein Jahr als Bauarbeiterin, obwohl sie eine ausgebildete Archäologin war. Nach einem Jahr fand sie einen Job in der Wissenschaft und arbeitete drei Jahre als Archäologin.

Im Exil hörte M. sich mehrmals in schwierigen Situationen die Stimme ihrer Mutter auf der Kassette an. Die Mutter von M. war eine Frau mit sechs Kindern aus dem Süd-Iran (Fars Provinz). Einige Jahre vor M.s Migration hatte sie die Stimme ihrer Mutter auf eine Audiokassette aufgenommen. Die Kassette ist jetzt schon 42 Jahre alt und seit 37 Jahren mit M. unterwegs. Die Mutter erzählte auf der Kassette ihre Lebensgeschichte als eine junge Ehefrau mit sechs Kindern und ihrem aggressiven Mann. Sie spricht mit ihrer Tochter über die Schwierigkeiten und Demütigungen, die sie als eine junge Frau und Mutter erlebt hatte. M. erzählte mir, dass sie solche Demütigungen nicht mehr erleben wollte. Daher studierte sie und engagierte sich für politische und soziale Aktivitäten. Sie wurde aus politischen Gründen verfolgt und floh daraufhin aus dem Iran mit vielen Gefahren und Schwierigkeiten. Ihre Mutter starb vier Jahre nach der Stimmaufnahme und M. konnte ihre Mutter nie wieder besuchen und sehen. Diese Kassette war nicht nur das einzige Objekt, das sie mitgenommen hatte, sondern die einzige Erinnerung an ihre Mutter.

Nach der politischen Wende und dem Zerfall des Kommunismus (1989-1990) kam M. nach Deutschland und Berlin und lebt bis heute dort. In all diesen Jahren hörte sie ab und zu die Kassette. Aber weil das Material der Kassette etwas zerbrechlich war, hatte M. Angst, dass die Kassette kaputt gehen oder ihre Qualität verlieren könnte. Deswegen hörte sie sich die Stimme ihrer Mutter nicht so häufig an.

Die Materialität von Audiokassetten spielte eine besondere Rolle vor, während und nach der Iranischen Revolution (1978-1980). Die Kassetten wurden für politische Nachrichten, revolutionäre Musik, Reden, Vorträge, etc. verwendet. In dieser Zeit wurden die Audiokassetten im Iran als ein wichtiges Material für die Revolution genutzt2. Aber seit 2000 wurde die Kassette von anderen Tonträgern abgelöst und ihre Nutzung ist weltweit stark gesunken3.

Erst im Jahr 2002 durfte M. wieder in den Iran zurückreisen, nach 20 Jahren. Genau wie die Kassette sah auch das Land nicht mehr wie damals aus. Viele Sache waren stark verändert und was noch wichtiger war – ihre Mutter lebte nicht mehr. Es gab eine 20-jährige Lücke in ihrer Erinnerung. M. erzählte mir, dass sie sich bei ihrer Reise in den Iran fragte, ob all die Ereignisse, die Revolution, die Menschen und Freunde, wahr gewesen waren. War das alles wirklich geschehen?

Die Kassette wird nun zu einem neuen Objekt oder wie M. schreibt, zu einem Beweis für eine Vergangenheit, die nur als unscharfe Erinnerung existiert: „Ich brauche einen Beweis, eine Evidenz, welche zeigt, dass die Vergangenheit existierte.“ Und hier ist die Stimme, die Stimme von ihrer Mutter, der Beweis für all die verlorenen Momente, für die Vergangenheit. Die Kassette verbindet nicht nur M. mit ihrer Vergangenheit, sondern ermöglicht eine wichtige emotionale Beziehung zu ihrer Mutter. Die Kassette erschafft einen ewigen Dialog zwischen zwei Frauen aus zwei verschiedenen Generationen, die sich in unterschiedlichen Lebenssituationen befinden, aber ähnliche Schwierigkeiten haben. Die Kassette verbindet die Erinnerungen mit der verlorenen Vergangenheit.

Anoush Masoudi

[1] Forrough Farrokhzad Website- Selected works Electronic Document. https://www.forughfarrokhzad.org/selectedworks/selectedworks6.php [10.08.20]

[2] Sreberny-Mohammadi, Annabelle. Mohammadi, Ali. 1994. Small Media Big Revolution: Communication, Culture and the Iranian Revolution.

[3] Not long left for cassette tapes. BBC. 17 June 2005. Retrieved 13 September 2006. Electronic Document. http://news.bbc.co.uk/2/hi/technology/4099904.stm [10.08.20]

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