Falsche Hoffnungen

Der weiße Umschlag, der mehr als eine Woche lang ungeöffnet auf meinem Schreibtisch im Büro lag und der Briefe von zwei Personen und zwei Geschichten enthielt, wurde zu einem meiner größten Bedauern! Es war die Zeit der Weihnachts- und Neujahrs -Spam- Post, so dass ich dem Brief, der mich später tief berühren sollte, keine Beachtung geschenkt hatte.

Ich arbeite im Museum als Teil des Teams für Museumspädagogik und verstand mich als Brücke, die das Durchgangslager Friedland (DGL) mit dem Museum Friedland verbindet und den Menschen, die im DGL wohnen, die Möglichkeit bietet, ihre Hoffnungen, Gedanken und Erinnerungen durch Malen auszudrücken. Nach einem langen, ereignisreichen Arbeitstag im Januar schmiss ich mich auf einen bequemen Sitz eines Cantus-Zuges und träumte von einer heißen Linsensuppe mit einigen Tropfen Zitrone für ein spätes Abendessen. Aus Gewohnheit zerrte ich mein Tagebuch hervor, um ein paar Worte zu schreiben, aber die Spam-Post war darin. Ich habe keine Erklärung dafür, wie sie in meine Handtasche kam, aber ich erinnere mich noch an die bitteren, salzigen Tränen, die fielen, als ich die Papiere las, die in dem großen weißen Umschlag waren.

Es sind zwei Geschichten, und meine Seele ist zwischen ihnen hin- und hergerissen: Soll ich mit den feinfühligen, kindlichen Briefen von Selen beginnen, dem zarten neunjährigen Mädchen, das mit seiner imaginären Mutter spricht und allein mit ihrem Vater lebt? Sie wurde 2010 geboren, am ersten Januartag - wie alle syrischen Kinder! In Syrien ist es üblich, dass Eltern ihre neugeborenen Kinder gleich zu Beginn des neuen Jahres anmelden. Oder soll ich von Esam sprechen, dem Vater, der einen großen Teil seines Lebens mit der Sehnsucht nach einem Kind verbracht hatte und, als er mit Selen wieder vereint werden konnte, sie festhalten musste, um ihr Leben in der Diaspora zu beginnen - ohne ihre Mutter.

Wenn ich an den weißen Umschlag zurückdenke, erinnere ich mich, wie die arabischen Buchstaben und die elegante schwarze Schreibschrift Leser*innen verführen. Sie formen das Bild des Schreibers, der Gedanken in Worte fasst. "Ich bin Mohamad Esam Madah Edelbi, der Sohn von Ahmad Moneer & Mazyan Attar. Geboren wurde ich 1968 in Aleppo, Syrien...." Diejenigen, die in Syrien leben oder gelebt haben, können die langen Jahre der Angst und Unterdrückung nachempfinden und sind schockiert wie ich.

Ich hätte nie gedacht, dass Let's Make It (LMI) virtuell reisen und Menschen inspirieren würde, die meilenweit vom Museum Friedland entfernt leben... Seit Juli 2016 führe ich die vier Aktivitäten von LMI durch, um den Bewohner*innen des Durchgangslagers Friedland einen Besuch in der Museumssammlung zu ermöglichen.

Esams erste Ehe war eine Mischung aus der Sehnsucht nach einem Kind und vielen teuren Fahrten in Krankenhäuser. Die Qualen des stundenlangen Wartens vor den Operationssälen der Krankenhäuser und viele Versuche, ein Kind per IVF zu bekommen, führten zu einer komplizierten Scheidung. In der zweiten Ehe kam Selen zur Welt, aber die Mutter konnte sie nicht zwischen fünf anderen Stiefgeschwistern aus einer früheren Ehe großziehen. Die zweite Scheidung machte Esam erneut kinderlos. Die Familienmediation scheiterte, bis Selen 6 Monate alt war: Kurz vor der nächsten Heirat von Selens leiblicher Mutter wurde sie dem Vater übergeben, während er in seinem Geschäft war. Die erste Frau von Esam fungierte als Stiefmutter von Selen, als die Familie nach Ägypten floh, aber am 20. Dezember 2017 wurden sie wieder geschieden.

Nachdem ich den Brief gelesen hatte, nahm ich direkt Kontakt zu Selen und ihrem Vater auf, um mehr über ihr Leben zu erfahren, ihre Erwartungen und Hoffnungen zu verstehen und zu erfahren, warum sie sich an Let's Make It gewandt hatten. Das virtuelle Gespräch und die Bilder von Esam und Selen erklärten, warum dieser Brief an das Museum Friedland geschickt wurde und räumten ein Missverständnis aus - LMI ist keine UN-Initiative, sondern ein Raum, in dem Geschichten über das Ankommen geboren werden! Esams Eifer, Selen die medizinische und psychologische Behandlung aufgrund eines Kriegstraumas anzubieten, entfachte die falschen Hoffnungen. "Wer weiß, vielleicht werden unsere Bilder eines Tages im Museum Friedland ausgestellt", sagte Esam.

Samah Al Jundi-Pfaff

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