Die Materialität vorübergehender Aufenthalte
Deutschland ist zu einem beliebten Zielland für Studierende und Wissenschaftler*innen aus Indien geworden. Etwa 350 von ihnen leben in Göttingen, der selbst ernannten „Stadt, die Wissen schafft'“ Viele der jungen Inder*innen, besonders jene, die für ihren Master- oder Promotionsabschluss kommen, werden nicht in Göttingen oder Deutschland bleiben, sondern weiterziehen.
Shilpa [1] und ihr Ehemann Sachin [2] waren in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Sie kamen als Promotionsstudierende nach Göttingen und planten dieses nach ihrem Abschluss also nach etwa vier Jahren wieder zu verlassen. Von Beginn an zu wissen, dass sie nicht bleiben würden, und ihre Ausrichtung auf die Fertigstellung der Promotion hatten einen erheblichen Einfluss auf ihren Alltag in Göttingen. Wie Sachin mir erklärte: „An den Wochentagen gehen wir nur zur Arbeit, wir kommen nach Hause, essen, schlafen, gehen zur Arbeit, kommen nach Hause, essen, schlafen. Auch weil wir mit dem Gefühl kommen, dass wir hier nur für vier Jahre sind. Außerdem sind wir hier, um etwas zu erreichen.“ [3]
Zu wissen, dass sie Göttingen irgendwann verlassen würden, beeinflusste nicht nur, wie Shilpa und Sachin ihre Zeit verbrachten, sondern auch die Materialität ihres Lebens zum Beispiel die Einrichtung ihrer Wohnung. Shilpa erzählte mir: "unser Denken, alles ist anders. Alles, was wir tun, wird von unserem Wissen, dass es nur vorübergehend ist, geleitet.“ [4]
Shilpas Aussage wirft die Frage auf, welche Objekte in einer solchen Situation als notwendig erachtet werden. Für die Beantwortung dieser Frage betrachte ich im Folgenden zwei Kategorien von Objekten: die Dinge, die die jungen Inder*innen nach Göttingen mitbrachten, und die Dinge, die sie während ihres Aufenthaltes erwarben und beim Verlassen Göttingens zurückließen.
Was nach Göttingen mitgebracht werden sollte, war eine der “Frequently Asked Questions” auf der Homepage der Vereinigung für indische Studierende in Göttingen. Zu meiner Überraschung wurde als erstes von 22 Dingen, die mitgebracht werden sollten, ein Dampfkochtopf aufgelistet. Auch die folgenden neun Dinge, die aufgezählt wurden, waren entweder Lebensmittel oder Gegenstände, die zur Zubereitung von Essen gebraucht werden, wie beispielsweise eine Kokosnussreibe.
Wie bereits in anderen Beiträgen angesprochen wurde (z.B. Chapati), sind das Kochen und Essen vertrauter Speisen - allein oder gemeinsam – wichtige Praktiken für mobile Menschen. Gegenstände wie der Dampfkochtopf oder Gewürze machen es möglich, Lebensmittel auf eine vertraute Art und Weise zuzubereiten, und ermöglichen so ein Gefühl von Kontinuität im Alltag [5]. Speisen und die Praktiken, die mit ihnen verbunden sind, erschaffen „greifbare Verbindungen“ [6], Verbindungen zur Vergangenheit, zu Menschen und Orten. Aus diesem Grund sind die Objekte, die diese Praktiken ermöglichen, bleibende Dinge – sie bleiben bei den jungen Inder*innen und werden sie zu ihren nächsten Wohnorten begleiten.
Während ihrer Zeit in Göttingen kaufen die Promovierenden aus Indien häufig nicht viele Möbel. entweder weil sie in einem möblierten Apartment oder einem Wohnheim wohnen oder keinen Grund dafür sehen, Geld in die Ausstattung der Wohnung zu investieren. Gegenstände, die angeschafft werden müssen, wie ein Regal, ein Stuhl oder das typische Fortbewegungsmittel in Göttingen, das Fahrrad, werden von den jungen Inder*innen wie von vielen Studierenden gebraucht gekauft. Daher existiert ein lebhafter Markt für den Ver- und Ankauf von gebrauchten Dingen, sowohl offline als auch online, da die Menschen, die Göttingen verlassen, ihre Haushalte auflösen müssen.
Die Gegenstände, die so erstanden werden, gehören den jungen Menschen nur für eine gewisse Zeit, und so sind auch die Bindungen zu ihnen vorübergehend. Wenn die Promovierenden aus Indien Göttingen wieder verlassen, verkaufen sie diese vorübergehenden Dinge häufig wieder – manchmal an Neuankömmlinge aus Indien. Die Dinge wie die Fahrräder, Tische und Stühle bleiben in Göttingen und verbinden ihre Besitzer miteinander und mit dieser besonderen Zeit ihres Lebens.
Was sich wahrscheinlich anhört wie eine sehr asketische Lebensweise, kann als Ausdruck der Ambivalenz verstanden werden, die sich aus dem Bewusstsein entwickelt, dass man nicht bleiben wird. Shilpa erklärte dieses Gefühl von Ambivalenz am Beispiel ihrer Wohnung: „Es ist unsere Wohnung und wir haben das Gefühl, dass sie unser Zuhause ist. Aber wir wollen auch nicht so viele Dinge für sie kaufen oder die Wohnung schön dekorieren.“ Fotos von der Familie oder von Reisen schmückten nicht die Wände der Wohnungen, sondern wurden auf Handys oder Laptops aufbewahrt oder hochgeladen und auf digitalen Wänden ausgestellt, wie beispielsweise auf der Facebook-Chronik. Auf diese Weise können „tröstliche Dinge“ [7] wie Familienfotos einfach zum nächsten Wohnort transportiert werden. Andere Dekorationen wie Rangolis werden für bestimmte Festlichkeiten beispielsweise Diwali oder Durga Puja hergestellt. Rangolis werden aus eingefärbtem Sand gemacht, der in filigranen Mustern auf den Boden gestreut wird. Diese Dekorationen sind von Natur aus vorübergehend und werden nach den Festlichkeiten einfach weggekehrt.
In diesem Beitrag habe ich gezeigt, wie das Wissen um den eigenen vorübergehenden Zustand die materielle Welt von Menschen beeinflusst. Allerdings wirkt diese Dynamik auch andersherum: Die Dinge, die genutzt werden, um die „Durchreise auszustatten“ [8] können zu ständigen Ermahnungen daran werden, dass man nicht bleiben wird. Für viele der indischen Promovierenden war dieser Gedanke aber nicht unbedingt beunruhigend. Abhängig von den Erfahrungen, die sie in Deutschland an ihren Instituten oder im Alltagleben in der Stadt machten, konnte der Gedanke an die Abreise sehr tröstend sein.
Antonie Fuhse