Silent Witnesses of Hardship : Things Obtained in displacement

Dieser Kamm und die Schere sind seit sechs Jahren in Wassims Besitz. Er ist ein Friseur, der in einem Salon in Göttingen arbeitet. Er benutzt den Kamm und die Schere nicht mehr, behält sie aber bei sich.

Dinge, die die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden

Im Libanon begann Wassim als Elfjähriger in einem Friseursalon zu arbeiten. Nach und nach lernte er Haare zu schneiden und zu stylen, bis er ein professioneller Friseur war. Später arbeitete er in Ländern wie den Vereinten Arabischen Emiraten, in einem Land in Südwestafrika und in Frankreich, von wo aus er vor sechs Jahren nach Deutschland kam.

Ich traf Wassim an seinem Arbeitsplatz, dem Friseursalon Laufsteg in Göttingen. Als ich ihn fragte, was er nach Deutschland mitgebracht hatte, hellte sich seine Mine auf und er sagte: „Das ist eine interessante Frage. Ich hätte viele Dinge mitgebracht, wenn ich sie nicht verloren hätte.“ Auf seinem Migrationsweg hatte er sein Gepäck verloren – einen einzelnen Koffer, in welchem er das Werkzeug verstaut hatte, das er nach Deutschland mitbringen wollte. „Ich hatte die Geräte in Afrika gekauft, sie waren ganz neue und teure Haarschneidemaschinen. Ich habe sie geliebt … und habe dann einen Fehler gemacht. Zu dieser Zeit hatte ich sehr viel Stress und so vergaß ich, dass ich mein Gepäck nicht bekommen würde, wenn ich den Transitflug bei einem der Zwischenstopps verlassen würde“ erklärte Wassim.

Ich fragte ihn, wie es sich angefühlt hatte, die Geräte zu verlieren. „Eine Zeit lang war ich traurig, aber nach und nach habe ich es vergessen…“ antwortete er und fügte hinzu „denn nichts im Leben bleibt.“

Während Wassim Haare schnitt, fragte er mich: „Willst du etwas sehen?“ Aus einer kleinen Werkzeugtasche, die er um die Hüften trug, holte er einen Kamm, dem bereits einige Zinken fehlten, und eine alte Schere. „Damit habe ich in Deutschland angefangen zu arbeiten. Ich habe sie nun seit sechs Jahren. Jedes Mal nehme ich mir vor, sie zuhause zu lassen und vergesse es dann doch.“

Es klang so, als würde Wassim gar nicht darüber nachdenken, diese alten und kaputten Dinge wegzuschmeißen. Als ich nachfragte, warum er sie bei sich behielt, obwohl er sie nicht benutzte, antwortete er: „Ich habe in Deutschland von Null angefangen, mit diesen beiden Dingen. Immer wenn ich den Kamm und die Schere sehe, geben sie mir Kraft. Sie machen mich wieder stark. Ich habe mit ihnen angefangen. Wenn du dich daran erinnerst, dass du von Null angefangen hast, dass du nichts warst, dann wird alles einfacher. Es war schwer, sie zu bekommen. Ich hatte kein Geld und kannte niemanden hier. Jemand gab mir die Schere und den Kamm. Ich möchte sie in eine Kiste tun und sie aufbewahren, um sie in der Zukunft meinen Kindern zu zeigen.

Der Kamm und die Schere können als Dinge verstanden werden, die Wassim an all seine Bemühungen und Anstrengungen erinnern, die er in den letzten sechs Jahren in Deutschland unternommen hat. All die Unbeständigkeiten eines Lebens als Migrant in einem neuen Land spiegeln sich in ihnen wider. Wenn er auf die Schere und den Kamm schaut, findet er den Mut, sich den Herausforderungen des Alltags in der Gegenwart zu stellen. Er behält diese Dinge, um sie seinen zukünftigen Kindern als Zeugen seiner Entbehrungen zu zeigen. Sie bezeugen, dass, mit Hilfe von Beharrlichkeit und Mühe, schwere Tage vorüber gehen und gute Tage kommen werden.

Diese einfachen Alltagsgegenstände ermöglichen eine greifbare Verbindung zur Vergangenheit. Sie erinnern an die Entbehrungen und die harte Arbeit, die dem Erfolg in der Gegenwart vorangingen. Für Wassim sind mit der Schere und dem Kamm unterschiedliche Emotionen verbunden, wie Stolz, Selbstwertgefühl und Würde. Sie wurden zu ‚emotionalen Objektenʻ mit Bedeutsamkeit und verliehen ihm Handlungsvermögen [1], was über ihre eigentliche Funktion hinaus dazu beiträgt, das persönliche Wohlergehen zu verbessern [2]. Der Kamm und die Schere wurden so zu Dingen, die Inspiration und Hoffnung vermitteln.

Menschen schreiben Dingen Bedeutung zu - aufgrund ihrer Funktion, ihres finanziellen Wertes oder eben auch der Emotionen und Gefühle, die mit ihnen assoziiert werden [3]. Laut Guy Fletcher haben Dinge sentimentalen Wert, wenn sie wegen der Beziehungen wertgeschätzt werden, die mit ihnen in Verbindung stehen. Sie können zum Beispiel jemandem gehört haben, zu dem wir eine besondere Beziehung haben, wie einem Familienmitglied, Freund*innen, oder Partner*innen. Oder, wie im Fall der Schere und des Kamms, können Dinge ihren sentimentalen Wert erhalten, weil wir sie während einer besonderen Zeit erhalten haben [4].

Maliheh Bayat Tork

1. Downes, Stephanie, Sally Holloway & Sarah Randles. 2018. Introduction. In: Downes, Stephanie, Sally Holloway & Sarah Randles (eds.),  Feeling Things: Objects and Emotions through History. Oxford University Press, 1-7, S. 5

2. Scarpaci, Joseph L. 2016. Introductory Essay. Material Culture and the  Meaning of Objects. In: Material Culture, Vol. 48, 1 (2016), 1-9, S. 1. https://www.researchgate.net/publication/316460091_Introductory_Essay_Material_Culture_and_the_Meaning_of_Objects [zuletzt zugegriffen am 12.Dezepmber 2019]

3. Hatzimoysis, Anthony 2003. Sentimental Value. In: The Philosophical Quarterly, 53, 112: 373-379

4. Fletcher, Guy. 2009. Sentimental Value. In: The Journal of Value Inquiry 43,1:55-65, S. 56