Die Lagerchroniken im Museum Friedland als Spiegel gesellschaftlicher und politischer Debatten
Eines der Objekte, das ich im Museum Friedland besonders schätze, sind die Lagerchroniken. Bereits bei meinem ersten Besuch haben sie mich fasziniert. Nicht nur, weil sie gleich im ersten Raum des Museums zu finden sind und allein durch ihre Größe und Gestaltung beeindrucken, sondern auch, weil es an verschiedenen Stellen des Museums die Möglichkeit gibt, digital durch diese Chroniken zu blättern. So ließ ich mich bereits bei meinem ersten Besuch durch die Zeitungsartikel und andere Dokumente in die Entstehungszeit des Lagers hineinversetzen und konnte die folgenden Entwicklungen nachvollziehen. Die Lagerchroniken erzählten mir nicht nur von den historischen Veränderungen im Grenzdurchgangslager, sondern auch durch Zeitungsartikel von den dahinterstehenden politischen und gesellschaftlichen Debatten.
Aus meiner sozialwissenschaftlichen Perspektive sind diese Verschiebungen in den gesellschaftlichen Debatten sehr spannend, weil sie deutlich machen, wie eng sie mit politischen Entscheidungen verknüpft sind. Wie stark politische Diskurse von Macht und Einfluss geprägt sind und wie machtlos weniger privilegierte Akteure in diesen dominanten Diskursen sind bzw. wie viel möglich ist, wenn etwas von den politisch und gesellschaftlich Verantwortlichen gewollt ist: Insbesondere die große Hilfsbereitschaft gegenüber den Boat People aus Vietnam in den 1970er- und 1980er-Jahren auch in und um Friedland lässt sich durch das damalige antikommunistische Klima erklären. Und auch heutige Debatten um Flucht und Migration sind von diesen Wechselwirkungen gekennzeichnet: 2015, als sowohl der politische als auch der gesellschaftliche Diskurs für ein offenes Europa und eine Unterstützung von Geflüchteten plädierten, waren durch die sich ausbreitende Solidarität Dinge möglich, von denen wir heute nur träumen können: Zivilgesellschaftliche Stimmen, die für Humanität, Asylrecht und offene Grenzen plädieren, verhallen heute oft ungehört, weil sich das politische Klima gewandelt hat und andere politische Weichenstellungen vorgenommen werden.
Gleichzeitig machen die Chroniken aber auch deutlich, dass es immer wiederkehrende Kontinuitäten in den Debatten gibt. So dokumentieren Artikel aus den 1990er-Jahren öffentliche Debatten über gefälschte Papiere und die Summen, die Menschen bezahlten, um ihre deutsche Abstammung zu belegen. Auch wenn ich sonst bei der Beschäftigung mit Friedland zunehmend den Eindruck gewinne, dass es in der Vergangenheit leichter fiel, die als Deutsch kategorisierten und wahrgenommenen Aussiedler*innen aufzunehmen, erinnert mich diese Debatte überraschend stark an heutigen Auseinandersetzungen um gefälschte Papiere und unrechtmäßige Einreisen, die alle die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden und der Abgrenzung berühren.
Doch die Chroniken dokumentieren nicht nur Wandel und Kontinuitäten in gesellschaftlichen Debatten. Dass sie auch noch ganz ‚andere Sprachen' sprechen kann, aktiver Beziehungen beeinflussen und Gespräche in Gang zu bringen vermag, habe ich bei einem meiner späteren Besuche im Museum erfahren, als ich Samah, eine der museumspädagogischen Mitarbeiterinnen des Museums, bei der Führung unter dem Motto „Mit anderen Augen“ begleitete.
Serena Müller