Die Lagerchroniken im Museum Friedland als Ausgangspunkt von Gesprächen

Wie Samah Al Jundi-Pfaff, die museumspädagogische Mitarbeiterin des Museums Friedland, erzählt, sind Museen in ihrem Heimatland in Syrien sowie in den Herkunftsländern vieler Bewohner*innen des Grenzdurchgangslagers Zeugnisse der Geschichte, etwas Altes und Historisches, das mit dem eigenen Leben nicht viel zu tun hat.

Einen ähnlichen Zugang hatte ich selbst früher zu Chroniken. Sie dokumentierten für mich die Geschichte, machten historische Veränderungen und Kontinuitäten sichtbar und erklärten Zusammenhänge. Für mich waren sie nur insofern aktuell und hatten etwas mit mir zu tun, dass sie bspw. durch die Dokumentation der Vergangenheit unsere heutige Situation, wie politische Tendenzen und gesellschaftliche Strukturen, erklären.

Bei der Führung „Mit anderen Augen“ mit Samah Al Jundi-Pfaff, in der sie Besucher*innen des Museums einen Einblick in die Art der Führungen gab, die sie für Geflüchtete anbietet, die im Grenzdurchgangslager Friedland auf ihren Transfer warten, lernte ich ein ganz anderes Potential der Chroniken kennen und schätzen: ihre Rolle als Mittlerin und damit ihre Fähigkeit, Menschen ins Gespräch und in Beziehung zu bringen und auch neue in die Zukunft gewandte Perspektiven zu entwickeln.

In diesen Führungen lädt die Museumspädagogin Geflüchtete dazu ein, ausgehend von den Chroniken über Fotoalben, die in den eigenen Familien beispielsweise nach Hochzeiten erstellt werden, nachzudenken. Dann sprechen sie über Familienbeziehungen, über das, was sich verändert hat und was sie verloren haben; aber auch über das, was sich Neues entwickelt, über Friedland und die Perspektiven. Auch wenn dies oft keine glücklichen Geschichten sind, bemüht sich Samah Al Jundi-Pfaff dabei, die einzelnen Menschen wertzuschätzen und mit ihren einzigartigen Geschichten zu Wort kommen lassen. Dabei versteht sie sich als eine Art Sozialarbeiterin, die den Bewohner*innen hilft, über ihre Erfahrungen zu sprechen, sie damit ein bisschen zu verarbeiten und ein Gefühl der Gemeinsamkeit unter den Menschen zu entwickeln. Denn für sie steht immer ein Gefühl im Vordergrund, das sie in diesen Führungen zu vermitteln sucht: „Salamstan, Friedland, ist ein Land des Friedens, lasst uns den Frieden feiern, lasst uns den Augenblick leben und genießen“

Mein Aha-Effekt in Bezug auf die Chronik war deshalb vermutlich mit den Erfahrungen und dem Gefühl zu vergleichen, die Samah bei Geflüchteten beschrieb, wenn sie merken, dass das Museum auch mit ihnen etwas zu tun hat, dass es durch ihre Geschichten jeden Tag neu entsteht. Ich war an diesem Nachmittag fasziniert davon, welche unbekannten Perspektiven und für mich bisher verborgene Potentiale in den Chroniken stecken. Sie können auch Ausgangspunkt für Gespräche sein, die positive Gefühle und Einstellungen entstehen lassen, und damit sind sie nicht nur auf die Vergangenheit bezogen, sondern verdeutlichen aktuelle Bezüge, beeinflussen Perspektiven, Emotionen und Einstellungen und damit unsere Zukunft.

Serena Müller