Straßen & Narben

Berta Amlak kommt aus Addis Abeba, Äthiopien. Er ist 34 Jahre alt, ein ruhiger, freundlicher und nachdenklicher Mensch. Berta hat viele Jahre als Fahrschullehrer in der Hauptstadt des Landes gearbeitet. Im Jahr 2014 ging er mit vielen Tausend anderen Demonstrierenden – aus den unterschiedlichsten Milieus mit verschiedenen ethnischen Hintergründen – auf die Straße. Die über Kopf gekreuzten Arme wurden zum Symbol der Proteste. Berta und viele andere forderten ein Ende der Diktatur, Freiheit für alle Bürger*innen, freie Meinungsäußerung, wirtschaftliche Möglichkeiten, das Ende der Polizeigewalt und der anhaltenden ethnischen Gewalt im Land. Die massiven friedlichen Proteste wurden von staatlichen Kräften brutal unterdrückt, was zu vielen Opfern führte. [1]

Am 6. August 2016 gingen erneut Tausende von Menschen auf die Straße. Berta war unter ihnen, als die Sicherheitskräfte die Demonstrierenden angriffen. Er begann zu rennen, stolperte aber in dem Getümmel und fiel zu Boden. Als er auf dem Asphalt lag, wurde er von einem Polizisten mit einem Knüppel schwer verprügelt. "Zum Glück konnten die Demonstrierenden die Sicherheitskräfte durch einen Gegenangriff überwältigen. Deshalb ist es mir gelungen, der Situation zu entkommen. Sonst wäre ich tot", erzählt Berta mit nachdenklicher Miene die Geschichte. In der Folge erlitt er einen Arterienverletzung im linken Oberschenkel und schwere innere Blutungen, die durch eine Notoperation gestoppt werden mussten. Die Narbe ist immer noch deutlich sichtbar.

Im selben Jahr schloss sich Berta der "Patriotischen Ginbot 7-Bewegung für Einheit und Demokratie" ("Ginbot 7") [2] an, einer Anti-Regierungsbewegung und politischen Organisation, die den Kampf für ein demokratisches, friedliches und pluralistisches Äthiopien [3] erklärte. Er arbeitete in einer Untergrundgruppe, die nachts Broschüren verteilte, Plakate aufhängte, politische Slogans an Wände schrieb, neue Mitglieder rekrutierte und geheime Treffen abhielt. Jede einzelne Aktion brachte das Risiko mit sich, von der Polizei verhaftet und/oder getötet zu werden.

Dennoch setzte er sich für die Fortsetzung der Proteste und seiner politischen Aktivitäten in der "Ginbot 7"-Bewegung ein. Anfang 2018 wurden jedoch einige Gruppenmitglieder beim Verteilen von Flugblättern, die von der Organisation herausgegeben wurden, festgenommen. Sie wurden entweder von der Polizei verhaftet oder aber abgeführt. Berta ging in den Untergrund und versteckte sich acht Tage lang an verschiedenen Orten. Bis heute weiß er nichts über den Verbleib und das Schicksal seiner verschwundenen Freund*innen. Er vermutet, dass sie gefoltert wurden, um Informationen preiszugeben, und anschließend getötet wurden.

Enteignung & Flucht

Um nicht das gleiche Schicksal wie seine Freund*innen zu teilen, konnte er weder nach Hause noch an einen anderen Ort gehen, den er normalerweise zu besuchen pflegte. In den Tagen nach der Verhaftung entwickelte er mit seinen verbliebenen Freund*innen verzweifelt einen Fluchtplan. Sein Gruppenleiter machte ihn mit einem arabisch sprechenden Makler aus Somalia bekannt, mit dem er sich zwar kaum verständigen konnte, der ihm aber ein Visum für Frankreich besorgte. Der Preis war hoch, aber er hatte keine Wahl. Er musste seine gesamten Ersparnisse der letzten sechs Jahre ausgeben und auch seine Familie um Hilfe bitten, um die Summe von 450.00 Äthiopischen Birr (ETB) (fast 12.000€) aufzubringen. Außerdem wurde Berta gezwungen, alle seine Schulzeugnisse, Führerscheine und Dokumente an den Mittelsmann zu übergeben. Er hat sie nie wieder gesehen.

Mit dem Visum konnte er das Land ohne Schwierigkeiten verlassen. Als er das Flugzeug nahm, wusste er nicht einmal, dass er auf dem Weg nach Paris war, weil er sich mit dem Vermittler nicht gut verständigen konnte. Dort versuchte er, Leute zu finden, mit denen er auf Amharisch sprechen konnte, um herauszufinden, wohin er gehen und was er tun sollte. Schließlich traf er zufällig jemanden, der ihm etwas zu essen anbot und Berta ermutigte, den TGV nach Frankfurt zu nehmen. In Frankfurt wiederum zeigte ihm ein Fremder den Weg zur zentralen Erstaufnahmeeinrichtung im hessischen Gießen (70 km nördlich von Frankfurt) und kaufte ihm ein Zugticket.

Dinge & Orientierung in unsicheren Zeiten

Auf die Eröffnung seines Asylverfahrens als politisch Verfolgter folgte eine Odyssee durch viele hessische Aufnahmeeinrichtungen. Mehr als sechs Monate verbrachte er in einem provisorischen Aufnahmezentrum auf einem alten Universitätsgelände. In der Zwischenzeit schloss er sich der Frankfurter Sektion des "Ginbot 7" an, um seine politischen Aktivitäten im Exil fortzusetzen. Da sein Asylantrag abgelehnt wurde, musste er sich 18 Monate lang vor der Polizei verstecken, um die Dublin-Überstellungsfristen zu umgehen [4]. Der zweite Asylantrag wurde innerhalb kürzester Zeit abgelehnt, da er nicht nachweisen konnte, in Äthiopien persönlich verfolgt worden zu sein. Momentan hat Berta nur eine vorläufige Aussetzung der Abschiebung erhalten, die in Kürze auslaufen wird.

Berta lebt bei einer Familie im Rhein-Main-Gebiet, die ihm eine Bleibe angeboten hat. Einige seiner Einrichtungsgegenstände fand er im Sperrmüll, etwa eine Couch, einen Teppich. Andere Einrichtungsgegenstände wurden ihm von Freund*innen und Bekannten geschenkt. Immer, wenn er ein Möbelstück von besserer Qualität findet, ersetzt er die, die er hat.

Im Moment besucht er einen Deutschkurs. Sein sehnlichster Wunsch ist es, eine Berufsausbildung zu beginnen. Vor kurzem bot ihm eine Werkstatt eine Lehrstelle als Automechaniker an. Da seine Arbeitserlaubnis aber vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht genehmigt wurde, musste er die Chance verstreichen lassen.

Der Gedanke an den nächsten BAMF-Termin erfüllt Berta mit Grauen. Eine Zeit lang kann er nicht richtig schlafen. Die Vorstellung nach Äthiopien abgeschoben und denselben Behörden übergeben zu werden, die so viele seiner Weggefährt*innen und Freund*innen getötet, inhaftiert und gefoltert haben, lässt ihn während unserer Gespräche in Panik geraten.

Während Berta seine Geschichte anhand der Ereignisse chronologisch gut strukturiert erklärt, verschwimmen in seinen Erzählungen die Perioden, die ungeheuer gefährlich und unsicher waren. Es fällt ihm schwer, diese von existenzieller Bedrohung geprägten Abschnitte seines Lebens einzuordnen. Es scheint, als habe er die Erinnerung an sie verdrängt.

Während andere Menschen biografische Objekte als greifbare Träger von Erinnerungen nutzen, besitzt Berta solche Dinge nicht. Er nutzt die Dokumente seiner Verfahren und die Interviewprotokolle, um sich zu orientieren und bestimmte Ereignisse seiner Biografie zu verorten. Doch die richtigen Materialien sind nicht immer leicht zu finden. In diesem Sinne dient der Ordner als tragbares Archiv des Wissens und der Vergewisserung, das ihm Orientierung in seiner Erzählung ermöglicht und gleichzeitig die negativen Behördenentscheidungen enthält, die Ursache für seine heutige verzweifelte Situation sind. Der Ordner materialisiert seinen Weg der Migration ebenso wie seine Ablehnung.

Perspektive?

Abiy Ahmed Ali, Äthiopiens Präsident, erhielt 2019 den Friedensnobelpreis für seine Versöhnungsbemühungen mit den Nachbarländern, vor allem mit Eritrea [5]. Er scheint jedoch nicht in der Lage zu sein, die inneren Probleme anzugehen, die stark gespaltene Nation zu befrieden und den Bürger*innen Perspektive und Freiheit zu geben.

Für Berta sind diese Entwicklungen im doppelten Sinne ungünstig:

Erstens sind die Drohungen, verfolgt und getötet zu werden, immer noch vorhanden, da die Personen im Sicherheitsapparat, die den Protest 2018 unterdrückt haben, immer noch im Amt sind. Ende Mai 2020 veröffentlichte Amnesty International einen Bericht, in dem sie den äthiopischen Sicherheitskräften Massenverhaftungen, unmenschliche Behandlung und außergerichtliche Tötungen vorwerfen [6]. Ende Juni 2020 wurde der Musiker und Aktivist Haacaaluu Hundeessaa in Addis Abeba erschossen, nachdem er in einem Interview die Regierung kritisiert hatte. Bei den folgenden Protesten wurden mindestens 80 Menschen getötet; führende Oppositionelle wurden verhaftet [7].

Zweitens sind die Chancen, als Asylbewerber*in anerkannt zu werden, durch das positive Image Äthiopiens auf internationaler Ebene extrem gering geworden. Die Gefahren für sein Leben in Addis Abeba bleiben die gleichen, während die Anerkennung schwindet. Für Berta, der sich für die Demokratie in seinem Land und für ein geregeltes Leben in Europa (bis dahin) einsetzt, sind diese Verschiebung der Repräsentation Äthiopiens und die mehr oder weniger unveränderten inneren Verhältnisse eine gefährliche Mischung.

Friedemann Yi-Neumann

[1] https://www.hrw.org/news/2014/05/05/ethiopia-brutal-crackdown-protests [06.29.2020]

[2] Siehe auch im Politischen Programm der Bewegung unter http://www.ginbot7.org/Political_Programme.htm [06.29.2020].

[3] „Ginbot 7“ bedeutet „15. Mai“, der Tag an dem 200 Menschen bei Protesten vor dem Hintergrund der nationalen Wahlen im Jahr 2005 starben. Die Gruppe wurde von der Regierung zwischen 2009 und 2018 mit fragwürdigen Begründungen als "terroristische Gruppe" bezeichnet. Siehe auch: https://france.timesofnews.com/breaking-news/ethiopia-to-remove-olf-onlf-and-ginbot-7-from-terror-list

[4] Siehe PRO ASYL (2020) „Praxishinweise zur aktuellen Aussetzung von Dublin-Überstellungen und Überstellungsfristen“ https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/PRO-ASYL_ERBB_Praxishinweise-Aussetzung-Dublin_08.04.2020_korr.pdf

[5] https://www.nobelprize.org/prizes/peace/ [06.29.2020]

[6] https://www.ecoi.net/en/file/local/2030650/AFR2523582020ENGLISH.PDF [06.29.2020]

[7] https://www.aljazeera.com/news/2020/07/death-toll-ethiopia-violence-singer-killing-hits-239-200708075014258.html [08.13.2020]

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