Wenn die Polizei die Dinge von Migrant*innen nutzt, um die Migration zu erschweren

Javad ist ein junger Mann, der im Iran geboren wurde und aufgewachsen ist. Allerdings verfügte er nie über einen iranischen Ausweis, da seine Eltern ihr Heimatland Afghanistan während des Einmarschs der Sowjetunion 1979 verlassen hatten. Während meiner Arbeit in der humanitären Hilfe im Iran war Javad mein Kollege. Im Iran bietet die Gesetzeslage nur eingeschränkt die Möglichkeit Nicht-Staatsbürger*innen zu beschäftigen. Aus diesem Grund wurde Javad mit einem geringen Gehalt als Freiwilliger eingestellt. Er arbeitete als “Anwendungs- und Webentwickler” in der IT-Abteilung der Hilfsorganisation. Er war höflich, intelligent, immer beschäftigt an seinem Computer und redete nicht viel.

Die IT-Infrastruktur der gesamten Organisation wurde im Eilverfahren durch die harte Arbeit von drei afghanischen IT-Arbeitern etabliert. Sie arbeiteten bis fünf Uhr morgens im Büro. Der Teamgeist und das Verlangen danach etwas wichtiges und bedeutsames zu tun, motivierte meiner Ansicht nach den unermüdlichen Arbeitseifer.

Aufgrund der Verschlechterung der sozio-ökonomischen Situation im Iran seit Ende des Jahres 2018 (ausgelöst durch zusätzliche internationale Sanktionen und Misswirtschaft der Regierung) wurde das Gehalt der afghanischen Freiwilligen immer kleiner, bis sie letztendlich entlassen wurden.

Javad war für ein Jahr arbeitslos und suchte vergeblich nach einem neuen Arbeitsplatz. Javad entschied sich zu Beginn des Jahres 2020 den Iran zu verlassen, und in die Türkei zu gehen. Er zog nach Istanbul, wo er aufgrund seiner Expertise im IT-Bereich, Webentwicklung und Coding eine Teilzeitstelle in einer Schneiderei erhielt und eine kleine Wohnung mietete. Der Grund für seine Flucht war nicht Angst um sein Leben, sondern der Wunsch nach einem guten Leben, in welchem er seine Talente und Potentiale ausleben kann. Deswegen stellte ein Asylantrag in der Türkei für ihn keine Option dar. Er versuchte Griechenland zu erreichen und hoffte, dass er dort akzeptiert werden würde.

Um die Grenze zu Griechenland im Juli 2020 zu Fuß zu überqueren, benutzten Javad und einige andere GPS und Google Maps auf dem Handy. Er erreichte Griechenland und war für fünf Tage vor Ort, bis er von der Polizei gefangen und in die Türkei abgeschoben wurde. Er erzählte mir von dieser Erfahrung in einem Chat-Gespräch: „Die fünf Tage in Griechenland waren sehr hart. Wir liefen in der Nacht und schliefen am Tag. Uns ging das Essen und das Wasser aus, aber wir gingen weiter. Fünf Tage lang Elend und am Ende abgeschoben. Die Polizei nahm uns alles, unsere Handys, Rucksäcke und Kleidung.“ „Nahmen sie euch auch euer Geld?” fragte ich. „Nein, sie gaben uns unser Geld zurück und auch einen Satz Kleidung. Den Rest nahmen sie mit.“ antwortete er und erzählte weiter: „Die Stadtpolizei nahm uns fest und übergab uns der Grenzpolizei. Diese steckte uns für eine Nacht in ein Gefängnis, ohne Wasser und Essen. Am nächsten Tag brachten sie uns zu einem Fluss, der die Grenze zur Türkei bildet. Sie packten uns auf ein Schlauchboot, das uns auf die andere Seite des Flusses brachte.“

Ich fragte Javad, ob er bei der Abfahrt des Bootes, den Polizisten ins Gesicht geschaut habe. „Sie trugen schwarze Gesichtsmasken“ erklärte er. Ich fragte nach dem Grund dafür und ob dies mit den Schutzmaßnahmen gegen Corona zu tun hätte. Er antwortete: „Nein, die Masken tragen sie, damit sie nicht identifiziert werden können. Ich habe gehört, dass die Schläge ihrer Stöcke letztens ein Schlauchboot beschädigt haben, woraufhin drei Menschen aus Afrika ertranken, auch ein dreijähriges Mädchen, dessen Vater nun zurück in der Türkei ist und durchdreht. Seitdem bedecken sie ihre Gesichter.” Ich nahm an, dass das maskieren auch mit den internationalen Protesten gegen Polizeigewalt in Verbindung standen, die nach dem Tod George Floyds in den USA ausbrachen.

Ich fragte, warum die Polizei ihre Handys konfisziert hatte. „Um zu verhindern, dass wir es noch einmal versuchen. Alle benutzen das GPS auf ihren Handys, um die Routen zu finden und die Polizei weiß das. Sie nahmen auch unsere Schnürsenkel und Gürtel, um uns zu zwingen, aufzugeben. Ohne diese Dinge kann man nicht weit laufen.” Ich hatte nie realisiert, welche große Rolle diese kleinen Dinge wie Schnürsenkel oder Gürtel auf der Flucht spielen und wie der Verlust dieser Dinge die Mobilität der Menschen ernsthaft einschränkt.

Javad erzählte weiter: „Es war so schwierig, dass ich mich dazu entschied, in den Iran zurückzukehren. Aber die Situation im Iran ist chaotisch. Ich werde ein paar Monate bleiben, um zu sehen, war passiert. Ich fragte, ob er denn in der Türkei bleiben würde, wenn er dort einen ordentlichen Arbeitsplatz finden würde oder ob er unbedingt in andere Länder Europas wolle. „Sicher“ antwortete er. „Wenn ich hier einen guten Job finde. Ich würde überall bleiben, wo ich einen guten Job finde.“ Ich erinnerte mich an das Argument eines deutschen Passanten, der mich und meine Freund*innen von der Organisation Seebrücke im Stadtzentrum in Göttingen ansprach und fragte warum „diese Geflüchteten“ nach Europa kommen würden und nicht in die Nachbarländer gehen würden. Tatsächlich haben die Nachbarländer von Afghanistan und Syrien Millionen von Menschen aufgenommen und so ist es gar nicht richtig, dass alle nach Europa kommen. Und ich denke Javads Aussage liefert eine weitere Antwort auf die Frage des Mannes.

Ich fragte Javad, was ihn motivieren würde, all diese Schwierigkeiten und Mühen auszuhalten und ob das Leben im Iran wirklich so schlimm sei. Er antwortete mit einem bitteren Lächeln: „Das Wort Mojahir (Migrant) ist in unser Schicksal eingeschrieben. Es macht keinen Unterschied, wo wir sind. Wenn wir nach Afghanistan gehen, werden wir iranische Mohajer genannt, wenn wir im Iran sind, werden wir afghanische Mohajer genannt. Wir haben kein Land.” Er lachte und fuhr fort: „Der Iran war gut, aber ist es nicht mehr. Die Inflation hat dem Iran den Rücken gebrochen. Für die Iraner selbst wird es knapp, umso mehr für uns. Wenn die Situation im Iran wie zuvor geblieben wäre, wie zu der Zeit, als ich für die NGO gearbeitet habe, hätte ich nie daran gedacht, zu gehen. Ich wäre sogar mit dem niedrigeren Gehalt geblieben, aber sie haben uns entlassen. Zusätzlich hat auch noch die Einwanderungsbehörde Druck gemacht.”

Um in Deutschland als asylsuchende Person anerkannt zu werden, muss ein plausibler Grund für die Flucht vorgewiesen werden: Angst um das Leben, eine existentielle Gefahr aufgrund von Krieg, Verfolgung oder Gewalt. Arbeitslosigkeit und das Fehlen von Möglichkeiten, angemessene Arbeit zu finden, die der eigenen Neigung und Motivation entspricht, zählen nicht als Gründe.

Zurück zur Beziehung zwischen Menschen und Dingen. Menschen werden von Enteignungen persönlich und emotional getroffen. Wenn Menschen etwas weggenommen wird, besonders als Teil einer politischen Strategie, kann dies Leid und Erniedrigung mit sich bringen [Fußnote]. Deswegen fragte ich Javad danach, wie er sich Gefühlt hat, als er das Handy, die Schnürsenkel und den Gürtel an den Polizisten übergeben hatte. Er antwortete: „Ich trauerte um mein Handy, es war ein Geschenk von meinem Bruder. Ich liebte es. Aber die anderen Dinge waren egal.”

Ich fragte Javad auch, wie ihn das jeden Tag beim Schnüren und Öffnen seiner Schuhe beeinflusst. „Meine Schnürsenkel waren grau, sie hatten die gleiche Farbe wie die Schuhe. Als ich wieder in Istanbul war, suchte ich nach grauen Schnürsenkeln, konnte aber keine finden. So kaufte ich weiße. Sie passen nicht zur Farbe meiner Schuhe und so erinnere ich mich jedes Mal beim Binden und Öffnen meiner Schuhe an die Tage in Griechenland.“ Ich wollte wissen, welche Gefühle er damit verband: Wut, Scham, Bedauern, Demütigung, Traurigkeit… „Nichts davon! … Es ist Reue. Wir hatten die Grenze überschritten, wir waren in Griechenland, wir waren unserem Ziel so nah! Ich wünschte, wir wären nicht verhaftet worden und hätten es nach all der Mühe geschafft“ antwortete Javad.

Für Javad werden die Schnürsenkel wahrscheinlich immer ambivalente Dinge bleiben. Sie wurden von einem Alltagsgegenstand zu einem ‚sensitive object‘, das Affekte auslöst (Frykmann, M.&J., 2016), wie ein Objekt aus der Vergangenheit oder eine Erinnerung, die einen Schauer über den Rücken jagen. Als solche werden die Schnürsenkel für Javad immer eine Erinnerung an Flucht, Hoffnung, Machtlosigkeit und Enteignung sein, oder eben zu einem Träger eines Zugehörigkeitsgefühls, wie ich es in der Geschichte „Objekte als Mittel der Motivation“ beschrieben habe. Wenn Javad irgendwann seinen Traum erfüllen kann und seine Hoffnungen Realität werden, könnten die Schnürsenkel andere Gefühle heraufbeschwören, wie Stolz, Erfolgsgefühle, wie im Fall des Friseurs Wassim und seinem alten Kamm und der Schere, die ihn an die harten Zeit erinnerten, aber auch an seine Errungenschaften.

Maliheh Bayat Tork

[1] Dinge wurden während des Naziregimes oft als Mittel der Demütigung eingesetzt, um prominente Mitglieder der Opposition bei Schauprozessen lächerlich zu machen, indem man den Gefangenen übergroße Kleidung gab oder ihnen den Gürtel oder die falschen Zähne abnahm.

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