Reisegepäck

In den 1950er-Jahren diente das Grenzdurchgangslager Friedland Menschen aus ehemals deutschen Gebieten als erste Anlaufstelle. Ausgehend von Registrierungsdokumenten, die seitdem im Bundesverwaltungsamt in Friedland archiviert werden, fragt dieser Text nach Gegenständen, die als wertvoll genug angesehen werden, um von Migrant*innen mitgenommen zu werden.

Reisegepäck – Was ist es wert, mitgenommen zu werden?

Was haben Menschen in den 1950er-Jahren als wichtig und wertvoll genug empfunden und es auf ihre Umsiedlung von Oberschlesien nach Deutschland mitgenommen? Diese Frage stellte ich mir im Archiv des Bundesverwaltungsamts in Friedland, das die Akten aller seit Ende des zweiten Weltkriegs eingewanderten Kriegsrückkehrer und Aussiedler*innen verwahrt, als ich die Akte einer Bekannten in Händen hielt. Sie war Ende des Jahres 1956 mit ihrer Mutter und Schwester nach Deutschland migriert. Auf dem Feststellungsschein, der ihre Registrierung in Friedland dokumentiert, waren für sie zu dritt 17 Gepäckstücke verzeichnet.

Auf meine Fragen über ihre Zeit in Friedland hatte meine Bekannte mir stets geantwortet: „Ich weiß darüber nicht mehr viel… die Zeit in Friedland war für mich nicht wichtig… wir waren nur wenige Tage da… wir waren nur auf der Durchreise zu meinem Vater, der bereits in Deutschland war…“. Deshalb überraschte mich ihre Reaktion, als ich ihr von meinem Besuch im Archiv und von ihrer Akte erzählte. Zu dem Zeitpunkt hatte ich die Akte nur ansehen und noch nicht kopieren können, aber allein das Wissen um die Existenz der Akte, ihre Verwahrung über Jahrzehnte in Friedland und insbesondere das Detail über die Anzahl an Gepäckstücken schaffte das, was mir mit meinen Fragen nie gelungen war: Es rief Erinnerungen bei ihr wach und sie fing ausführlicher an zu erzählen: über die Vorbereitungen ihrer Reise, über die Zugfahrt und das Verlassen von Heimat und Freund*innen… und… über den Inhalt der Gepäckstücke.

Darüber hatte ich zuvor bereits mit meiner Familie spekuliert: Was waren wohl damals beim Verlassen der Heimat die wichtigsten Erinnerungsstücke, die sie mitnehmen wollten, insb. angesichts der Möglichkeit, die Reise zu planen, das Ziel der Reise zu kennen und nicht überstürzt aufbrechen zu müssen? Um welche Art des Reisegepäcks handelte es sich? Womit haben sie 17 Gepäckstücke gefüllt? Was haben sie zurückgelassen?

Die Antwort war überraschend für mich: Weder das Familienstammbuch oder andere Erinnerungsstücke waren Bestandteil des Reisegepäcks. Das Eindrücklichste, an das sich meine Bekannte erinnerte: „Weil wir die Familienchronik nicht mitnehmen durften, hat meine Mutter überlegt, dass das Wichtigste, was wir brauchen, Lebensmittel sind, und so haben wir kurz vor der geplanten Abreise noch unsere Hühner geschlachtet und sind dann mit in Butter konservierten Hühnchen in Friedland angekommen…“ Auf die Frage, wie sie während der Fahrt zu dritt für 17 Gepäckstücke Sorge tragen konnten, erwiderte meine Bekannte: „Dafür habe ich mich nicht interessiert. Für mich war die gesamte Situation irreal, ich habe damals nur an meine Schulfreund*innen gedacht und alles, was ich in der Heimat kannte und liebte und zurücklassen musste.“

Ich werde diese Geschichte weiterverfolgen. Aber mich haben insbesondere zwei Dinge fasziniert: Zum einen die Fähigkeit eines Objektes, Erinnerungen und Emotionen auszulösen und Gespräche in Gang zu bringen, auch wenn man es nicht in Händen hält, sondern nur von dessen Existenz weiß und erzählt bekommt. Zum anderen die Tatsache, dass manchmal ganz andere Dinge im Kontext von Migration wichtig erscheinen und mitgenommen werden als die, die ich als Außenstehende im Kopf habe und von denen ich glaube, dass ich sie als überlebensnotwenig erachten und mitnehmen würde.

Serena Müller

von Oberschlesien nach Friedland