Normalität
Ich traf Um-Abdallah in einer Sprachschule in Göttingen - wir waren im selben Kurs. Sie war eine fleißige, talentierte Schülerin, die regelmäßig an den Kursen teilnahm. Eine Weile nach dem Ende des Kurses habe ich ein Interview mit Um-Abdallah geführt und sie nach ihren Zukunftsplänen gefragt. Sie hatte das Ziel, die Sprache zu lernen, um leicht mit Menschen kommunizieren und ein ‚normales‘ Leben führen zu können. Sie fügte hinzu, dass sie sich bemüht, ein gutes und aktives Mitglied der deutschen Gesellschaft zu sein.
Mitten in unserem Gespräch kam Um-Abdallahs Sohn hinzu. Er lebt in Kassel und studiert dort an der Universität. Ich fragte ihn, wie er sich die Zukunft vorstellt und ob er einen Traum hat. Wie viele andere hatte er keinen großen Traum. Abdallah wollte, wie seine Mutter, nur ein normales und friedliches Leben führen. Die Ausbildung an der Universität gab ihm ein Gefühl der Normalität. Diese Sehnsucht nach Normalität ist ein Phänomen, das von vielen Migrationswissenschaftler*innen beschrieben haben (vgl. Woensel Kooy 2016, S. 34).
Eine zerrissene Familie, Jahre der Trennung, ein Leben in Panik, Terror und auf der Flucht (siehe auch Der Staub aus einem vergangenen Leben) lassen auch große Träume verschwinden, da sie zu einer Illusion werden, zu weit weg, um jemals (wieder) realisiert zu werden. Sich niederzulassen, die Sprache zu lernen und Zeit zu haben, sich von all dem zu erholen, was in der Vergangenheit Leid und Schmerz bereitet hat, scheint ausreichend zu sein. Sich so etwas zu widmen, bietet Zeit, um Traumata zu verarbeiten oder zumindest zu unterdrücken.
Damals, als ich als freiwillige Sozialarbeiterin im Grenzdurchgangslager Friedland arbeitete äußerten viele Flüchtlinge und Migranten, die ich traf, einen solchen Wunsch nach Normalität. Deutsch zu lernen war der erste Schritt. Im nächsten Schritt wird eine Ausbildung absolviert, um danach einen Job als gut qualifizierte*r Angestellte*r zu finden. Manche waren bereit, an der Universität zu studieren. Ein junger Somalier teilte mir mit, dass sein Plan darin bestand, an der Universität zu studieren und sich beraten zu lassen, welcher Fachbereich auf dem deutschen Arbeitsmarkt am ehesten gefragt ist.
Der Druck des Staates und die Unfähigkeit, mit dem Umfeld zu kommunizieren, machen Sprach- und Integrationskurse zu einem obligatorischen Schritt in Richtung Normalität in Deutschland. Ich fragte mich: Wie wäre der erste Schritt zur Normalität für einen afghanischen Flüchtling im Iran, der die gleiche Sprache spricht, anders? Theoretisch sollte ein Flüchtling im Iran einen Schritt voraus sein, aber stimmt das in der Praxis?
Malihé Bayat Tork